Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
Er kam einfach nicht mehr vor.«
»Hat Valerie sich darüber gefreut? Ich meine, hat es sie befriedigt?« fragte ich. Ich sah darin eine Möglichkeit, ihn an die Person zu erinnern, die mich am meisten interessierte. Das war ein naiver Schachzug von mir, auch Wheeler interessierte sie am meisten und er hatte sie keine Sekunde lang vergessen. In Wirklichkeit hat er den Faden in meiner Gegenwart nie ganz verloren.
Er hob einen Arm an die Stirn – oder das Handgelenk an die Schläfe –, als schmerzte sie ihn plötzlich sehr oder als wollte er feststellen, ob er Fieber bekommen hatte, oder vielleicht war es die Geste eines Alptraums. Wie auch immer, es war dieselbe wie an dem Tag, als er endlich die Augen geöffnet und die Hände von den Ohren genommen hatte nach den launischen Kreisen des Hubschraubers, der wie eine riesige Kinderklapper oder wie eine alte Sikorsky H- 5 klang und dessen ›bloßes Geräusch Panik auslöste‹, an jenem anderen, bereits fernen Sonntag in seinem Garten am Fluß, als wir zu zweit auf Sesseln saßen, die mit wasserdichtem Segeltuch oder Überzügen von der Farbe eines hellen Regenmantels bedeckt waren, auf diesen als Mammuts oder als aneinandergekettete Gespenster verkleideten Möbeln, damals gehörte ich noch nicht zur Gruppe, er hatte mich angeworben und mir vorgeschlagen, darin mitzuarbeiten. Er ließ sich mit seiner Antwort ein wenig Zeit, und ich fürchtete, er könnte erneut an einem Wort hängengeblieben sein. Doch das war nicht der Fall, sondern er zog es möglicherweise vor – so dachte ich ein wenig später –, mich sein Gesicht nicht ganz sehen zu lassen, während er erzählte, was er noch nicht erzählt hatte, oder es ging ihm darum, sich den Arm oder das Handgelenk von vorneherein recht nah an die Augen zu halten, um sie sich in Sekundenschnelle zudecken zu können, so wie ich mehrmals versucht gewesen war, es zu tun – und ein paar Mal hatte ich der Versuchung nachgegeben, wenn ich mich recht erinnerte –, als Tupra mir bei sich zu Hause die Videos vorgeführt hatte. Als ob er vorbereitet sein wollte, sich zu verstecken oder den Kopf unter dem Flügel zu bergen.
»Ob es sie befriedigt hat«, wiederholte er. »Ja, das kann man wohl so sagen. Die Idee war von ihr gekommen, und es war ihr erster persönlicher, individueller, unterscheidbarer Beitrag zum Kriegsverlauf oder zu den Bemühungen um den Sieg gewesen. Jefferys sprach ihr bei einem seiner nächsten Besuche seine Glückwünsche aus. Wie gesagt, er kam für eine Woche, hinterließ eine Flut von Ideen und zog wieder ab, und dann tauchte er erst einen Monat später wieder auf, oder noch später. Ich habe nie wieder von ihm gehört und in keinem Buch seinen Namen gelesen, deshalb bin ich überzeugt, daß es sich um einen Decknamen handelte. Sefton Delmer erwähnt ihn nicht, wer weiß, wer er in Wirklichkeit war. Aber es hinterließ sie auch unbefriedigt, sie haderte. Sie dachte an Ilse, Rendls Frau, gelegentlich fragte sie sich, wie sich deren Situation nach dem Sturz ihres Mannes entwickelt haben mochte. Er war unser Feind und nicht irgendeiner, kein armer Rekrut, sondern ein Nazi und ein Freiwilliger, der unbedingt in die SS hatte eintreten wollen. Und außerdem war er ein Volltrottel; aber er war auch der Schwager ihrer langjährigen Freundin und der Ehemann der älteren Schwester, die sich ihr gegenüber immer herzlich und geduldig verhalten hatte. Der Krieg ließ jedoch kaum Zeit für Skrupel, Gewissensbisse oder dergleichen. Aus diesem Grund behalten einige Menschen Kriegszeiten als die lebendigsten überhaupt in Erinnerung, als die euphorischsten, und in gewisser Weise vermissen sie sie später sogar. Kriege sind das Schlimmste, was es gibt, aber man lebt in ihnen mit einer ungekannten Intensität, das Gute daran ist, daß sie die Leute daran hindern, sich um Dummheiten zu sorgen oder Trübsal zu blasen oder ihrer Umgebung bei jeder Gelegenheit auf die Nerven zu fallen. Für nichts davon ist Zeit, es geht Schlag auf Schlag, auf etwas Beklemmendes folgt ein Schreck, auf ein Entsetzen ein Freudentaumel, und jeder Tag ist der letzte oder mehr noch, der einzige. Man marschiert, man steht Schulter an Schulter, alle Welt ist mit dem Überleben beschäftigt, mit der Aufgabe, das Untier zu besiegen, sich zu retten und andere zu retten, und es herrscht eine große Kameradschaftlichkeit, sofern nicht Panik um sich greift. Das war hier nicht der Fall. Du wirst es von deinem Vater und anderen gehört haben, in eurem Krieg
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