Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
war es ebenso.«
»Ja, ich habe davon gehört. Weniger von meinem Vater, der bei Kriegsbeginn zwar noch sehr jung, aber doch schon erwachsen war, als von anderen, die damals noch Kinder waren. Aber ich vermute, daß man solche Zeiten nur dann vermissen kann, wenn man siegreich daraus hervorgegangen ist, das müssen Sie bedenken, Peter. Für meinen Vater konnte es nicht dasselbe sein wie für Sie.«
»Ja, da hast du schon recht. Für mich ist es unvorstellbar, daß wir verloren haben könnten, und in dem Fall würde ich mich wahrscheinlich nur an den Schrecken erinnern. Oder ich hätte alles nur Erdenkliche getan, um ihn zu vergessen, und vielleicht wäre es mir auch gelungen, unter großer Anstrengung. Ich weiß es nicht, ich kann es nicht wissen.« Und Wheeler nahm den Arm von der Stirn, legte die Hand an die Wange und saß grübelnd da, als wäre er nie auf die Idee gekommen, darüber nachzudenken.
»Und was ist passiert? Was noch.« Das war es, was Tupra während unserer Sitzungen forderte, ›Was noch, sag mir mehr‹. Jetzt würde er das nicht mehr tun, und es würde keine Sitzungen mehr geben, soviel stand fest.
»Das Schlimme kam nach Kriegsende, als das gesamte Land den Kopf hob, um sich umzublicken, und einige, nicht viele, wollten nun auch darüber nachdenken, was geschehen war und was sie gesehen und wie sie gelebt und zu welchen Handlungen sie sich gezwungen gesehen hatten. Wenige Monate nach der Kapitulation erhielt Valerie einen Brief ihrer Freundin Maria. Die Verbindung zwischen den beiden war 1939 abgerissen, noch vor Ausbruch des Kriegs. Maria wußte nicht einmal, daß Valerie inzwischen verheiratet war und ihr Nachname nun Wheeler lautete. Wir hatten uns 1940 kennengelernt und 1941 geheiratet, kurz vor meinem achtundzwanzigsten Geburtstag, als sie das einundzwanzigste Lebensjahr vollendet hatte. Tatsächlich wußten sie nicht einmal, keine der beiden, ob die andere noch am Leben war. Maria schickte ihren Brief an die Adresse von Vals Eltern, und die Mutter leitete ihn nach Oxford weiter, wo wir gerade unsere neue Wohnung bezogen hatten, nachdem ich 1946 Fellow am Queen’s College geworden war. Ihr Vater war bei einem der Bombenangriffe auf London umgekommen. Im ersten Augenblick war Valerie hocherfreut, doch das hielt nur an, bis sie den Umschlag geöffnet hatte. Jener Brief war unsere Verdammnis. Na ja, ich nehme an, richtigerweise sollte man vor allem von ihrer Verdammnis sprechen.« Und als Peter dies hinzufügte, kamen mir wie eine Vorahnung, wie ein Echo die Worte in den Sinn, die ich Tupra bei sich zu Hause hatte sagen hören: ›Man wünscht es nicht, aber man zieht es immer vor, daß derjenige stirbt, der neben einem ist. In einer Mission oder in einer Schlacht, in einer Fliegerstaffel oder unter einem Bombardement oder im Schützengraben, als es welche gab, bei einem Straßenraub oder beim Überfall auf ein Geschäft oder bei der Entführung von Touristen, bei einem Erdbeben, einer Explosion, einem Attentat, einem Brand, egal bei was: der Freund, der Bruder, der Vater oder sogar der Sohn, auch wenn er noch ein Kind ist. Und auch die Geliebte, auch die Geliebte, eher als man selbst.‹ »Ich war nicht da, als sie den Brief empfing und las, sie hat ihn mir später gezeigt oder besser gesagt übersetzt: Maria sprach zwar Englisch, aber Vals Deutsch war besser, und sie schrieben sich in dieser Sprache. Es war ein langer, aber nicht allzu langer Brief, ich meine, nicht so lang, als daß sie ihr hätte näher darlegen können, was sie während der Kriegsjahre alles erlebt hatte. Sie faßte das Wesentliche zusammen. Auch sie hatte geheiratet und hieß jetzt Hafenrichter, allerdings war ihr Mann an der Ostfront gefallen, sie war Witwe. Sie lebte oder überlebte in ärmlichen Verhältnissen in der internationalen Zone in Wien (du weißt ja, wie Berlin war die Stadt in vier Zonen aufgeteilt worden: eine amerikanische, eine britische, eine russische und eine französische, und die Innenstadt war international, das heißt, die vier Mächte verwalteten sie und patroullierten dort zusammen). Sie berichtete von den Nöten, die sie durchzustehen hatte, es war dieselbe dramatische Lage wie in den deutschen Städten, nur herrschte vielleicht weniger Verwüstung, sie bat Valerie um etwas Unterstützung, wobei sie nicht spezifizierte, welcher Art, ob Geld, Medikamente, Kleidung, Lebensmittel … Ihre Eltern, Herr und Frau Mauthner, waren tot, eine der vier Schwestern ebenfalls, die dritte, und sie ging
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