Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
es kommt unseren Gesellschaften zupaß, verantwortungslose Menschen hervorzubringen. Ich weiß nicht, wie du dir das erklärst. Als wäre es ihnen nützlich, Invaliden zu produzieren. Wie alt ist dieses kluge Mädchen?‹
›Nicht älter als siebenundzwanzig, nehme ich an. Auch nicht viel jünger.‹
›Ach was, sie ist eine richtige Frau, sie wird längst überschritten haben, was Joseph Conrad die Schattenlinie nannte, oder wird im Begriff sein, es zu tun. Du weißt schon, das Alter, in dem das Leben sich unserer annimmt, wenn man sich nicht vorher seiner angenommen hat. Die Linie, die das Geschlossene vom Offenen trennt, die beschriebene Seite von der unbeschriebenen: den Punkt, ab dem einem immer mehr die Möglichkeiten ausgehen, weil diejenigen, die man verwirft, zunehmend unwiederbringlich werden und mit jedem Tag, den man älter wird, verlorener sind. Mit jeder Dämmerstunde; oder mit jeder erinnerten, was das gleiche ist.‹
›Das mag in Zeiten von Conrad so gewesen sein, Peter. Heute fühlen sich die meisten Leute mit siebenundzwanzig noch immer, als ginge das Leben an ihnen vorbei, wie soll ich sagen, als stünden alle Türen weit offen und das wahre Leben, das noch nicht begonnen hat, verharrte in ewigem Wartezustand. Von dieser Schule der Verantwortungslosen geht man erst später ab. Und wie Sie gerade bemerkten: wenn überhaupt.‹
›Na gut. Dein Alter wird der jungen Frau jedenfalls gleichgültig sein, wenn sie sich für dich interessiert oder deine Vorzüge erkennt. Wenn sie ein so gutes Auge hat, wie du sagst, wird sie in der Pubertät oder in der Kindheit nicht geschlafen, sich nicht abgekapselt haben, sondern ist wohl ein überaus fester Bestandteil der Welt, wahrscheinlich ist sie seinerzeit eilig auf sie aufgesprungen, vielleicht unter dem Druck der Umstände. Und sie wird nicht zu denen gehören, die sich mit sehr jungen Männern amüsieren, wenn sie so oft ins Schwarze trifft. Sie werden ihr viel zu durchschaubar erscheinen, sie braucht das Buch gar nicht aufzuschlagen, um die ganze Geschichte zu kennen.‹ Wheeler machte eine der langen Pausen, die ankündigten, daß er müde vom Sprechen war, am Telefon ermüdete er rasch, der Hand des Alten wird selbst der Telefonhörer schwer, seinen Arm kostet es Anstrengung, ihn hochzuhalten. Bevor er sich verabschiedete, sagte er noch: ›Tupra und du, ihr seid nicht so verschieden, Jacobo. Ihr seid es. Aber nicht so sehr, wie du glaubst oder wie du es gern hättest. Und du solltest nicht so allein sein da in London, das habe ich dir schon gesagt, auch wenn du jetzt abgelenkter und beschäftigter bist. Das ist nicht dasselbe.‹
Da hatte ich sie nun, die so kluge und nicht übermäßig hübsche junge Frau, bei mir zu Hause, abends, auf meinem Sofa, mit ihrem Hund, ihrem klaffendem Strumpf, sie wollte mich um einen Gefallen bitten, trank zu viel Wein, und draußen sah man den in sich ruhenden, mühelosen Regen, so stetig und heftig, daß er ganz allein die Nacht mit seinen kontinuierlichen Fäden wie flexible metallene Gerten oder wie endlose Lanzen zu erhellen schien, es war, als schlösse er für immer die freie Sicht aus und verdrängte jede andere künftige Zeit am Himmel und erlaubte nicht einmal die Vorstellung seiner Abwesenheit, so wie Umarmungen, wenn sie mit Gefühl und Verlangen erfolgen, und Abneigung, wenn zwischen den beiden, die sich vorher umarmten, nur noch Abneigung ist; das eine zuerst und danach das andere, fast immer geschehen die Dinge in dieser Reihenfolge, nicht umgekehrt. Da war die junge Pérez Nuix und sprach mit mir, wahrscheinlich war sie längst die Beste, ohne daß noch mehr Zeit vergehen mußte, diejenige, die am meisten differenzierte, und die begabteste aus unserer Gruppe in dem namenlosen Gebäude, die am meisten riskierte und von uns fünfen am tiefsten blickte, tiefer als Tupra und tiefer als ich und sehr viel tiefer als Mulryan und Rendel, ich fragte mich, ob sie erraten oder wissen konnte, wie meine Reaktionen und meine Antwort ausfallen würden, wenn sie mich endlich klar und deutlich um das bat, um das zu bitten sie gekommen war nach ihrem Spaziergang, naß unter dem Regenschirm. Und ich dachte, daß sie bestimmt ihre Abwägungen, Berechnungen und Prognosen gemacht hatte und daß sie sicher wußte, was mir über mich selbst noch nicht klar war – vielleicht hatte sie ihr Vorwissen; ich mußte mich ganz vorsichtig bewegen und mich von ihren Vorraussagen entfernen oder bewußt gegen sie verstoßen, doch das
Weitere Kostenlose Bücher