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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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besitzt. Je mehr Flecken und je weiter oben, desto besser für uns. So wie es im übrigen für jeden gut ist, was seine nähere Umgebung betrifft. Du hast ein Interesse daran, daß dein Nachbar in deiner Schuld steht oder daß du ihn bei irgendeiner Verfehlung erwischst und ihm den üblen Streich spielen kannst, es zu erzählen, oder ihm den Gefallen tun, es für dich zu behalten. Wenn die Leute nicht gegen das Gesetz verstoßen, nicht die Verhaltensregeln mißachten und niemals Gemeinheiten oder Fehler begehen würden, kämen wir auf keinen grünen Zweig, es wäre sehr schwer für uns, über Tauschgeld zu verfügen, und fast unmöglich, ihren Willen zu brechen, sie zu etwas zu zwingen. Wir müßten auf physische Gewalt und Drohungen zurückgreifen, und dieser Stil ist nicht mehr gebräuchlich, man versucht ihn schon seit längerem aufzugeben, man weiß nie, ob man da heil herauskommt oder am Ende vor Gericht gebracht wird und in Ungnade fällt. Die wirklich Mächtigen können das tun, dir das Leben schwermachen und erreichen, daß man dich kaltstellt, Hebel in Bewegung setzen, bis man dich schließlich opfert. Bei unbedeutenden Leuten ist das etwas anderes, wie bei deinem Freund Garza. Bei denen ist der Stil noch immer gebräuchlich, und es gibt keinen wirksameren, das garantiere ich dir. Bei denen, die nicht einmal aufmucken würden. Aber bei anderen ist es immer ein Risiko. Bei ihnen taugt auch Geld nichts, wenn sie viel besitzen. Aber fast alle sind imstande, abzuwägen und zu kalkulieren, sich Argumenten zu beugen, zu sehen, was gut für sie ist. Du weißt, wie sehr Dinge verborgen werden, ich habe nie jemanden gekannt, der nicht bereit gewesen wäre, mehr oder weniger nachzugeben, damit etwas geheim bliebe, damit es nicht herauskäme oder zumindest nicht einer bestimmten Person zur Kenntnis gelangte. Wie sollte es nicht gut für uns sein, daß die Leute schwach sind oder gemein oder gierig oder feige, daß sie Versuchungen nachgeben und kapitale Böcke schießen, sogar daß sie sich an Verbrechen beteiligen oder sie begehen. Das ist die Grundlage unserer Arbeit, die Substanz. Mehr noch: Es ist das Fundament des Staates. Der Staat braucht den Verrat, die Käuflichkeit, den Betrug, das Verbrechen, die illegalen Handlungen, die Verschwörung, die Tiefschläge (Heldentaten dagegen nur tröpfchenweise und dann und wann, als Kontrast). Wenn es sie nicht gäbe oder es nicht genug wären, müßte er sie begünstigen, das tut er auch schon. Warum, glaubst du, werden ständig neue Vergehen geschaffen? Was keines war, wird zu einem gemacht, damit niemand jemals sauber ist. Warum, glaubst du, greifen wir in alles ein und regeln alles, sogar das, was müßig ist, und das, was uns nichts angeht? Wir brauchen die Übertretung, den Verstoß. Wozu sollten uns die Gesetze dienen, wenn sich niemand gegen sie vergeht. Da würden wir nicht weit kommen. Wir könnten uns nicht einmal organisieren. Der Staat benötigt Übertretungen, das wissen sogar die Kinder, auch wenn sie nicht wissen, daß sie es wissen. Sie sind die ersten, die sich dafür anbieten. Man erzieht uns dazu, das Spiel mitzuspielen und von Anfang an zu kooperieren, und wir bleiben dabei bis zum letzten Tag, und selbst noch, wenn wir tot sind. Die Rechnung ist nie fertig bezahlt.«
    Ich verdrehte ab und zu ein wenig den Hals, um ihn aus dem Augenwinkel anzuschauen, aber de facto sprach Tupra, der auf seinem Puff hinter mir saß, vor allem zu meinem Rücken. Seine Stimme erreichte mich aus großer Nähe und sehr sanft, es war fast ein tiefes Murmeln, er hatte keinen Grund, sie zu heben, es umgab uns nur Stille. Das ›uns‹ in ›uns nichts angeht‹ war noch weiter gefaßt als das davor, er fühlte sich als Teil des Staates, als sein Vertreter, vielleicht als Hüter, vielleicht als Diener des Vaterlands, trotz seiner Neigung, vor allem auf den eigenen Nutzen bedacht zu sein. Ich vermutete, daß auch er selbst des Verrats fähig war, und wäre es nur, um das Land zu versorgen, um seine Bedürfnisse zu befriedigen.
    »Der Staat braucht den Verrat?« fragte ich leicht verwundert (aber nur ein klein wenig, ich begann, den Sinn zu erfassen).
    »Natürlich, Jack. Vor allem in Zeiten der Belagerung, der Invasion oder des Krieges. Des Verrats wird am meisten gedacht, er verbindet am engsten, die Nationen erinnern sich selbst nach Jahrhunderten noch daran. Was wären wir ohne ihn.«


    M ir kam in den Sinn, daß es ihm dann vielleicht ungewollt nützlich gewesen war, in

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