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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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‹, er bezog sich also auf eine Person, die außerdem männlich war, nicht auf einen Gegenstand oder irgendeine Einzelheit oder die Episode als solche, in den drei Fällen hätte er › it ‹ gebraucht.
    »Wen?« › Whom? ‹ fragte ich und verfiel mit dieser Form vielleicht in Überkorrektheit, wo ich doch den Akkusativ nicht hätte betonen müssen, ein weiteres Mysterium übertriebener Ordnung und Sorgfalt inmitten der Erschütterung, die ich empfand.
    Tupra schnalzte voll spontaner Verachtung mit der Zunge.
    »Auch darin stellst du dich heute ungeschickt an, Jack. Also wirklich, wozu hast du deine Augen, das Auge ist doch schnell genug und erfaßt alles. Andere Male hast du es besser gemacht, deine Fähigkeiten scheinen nachzulassen, oder du bist wohl müde.« Dann spulte er die Bilder mit der Fernbedienung, die ihm diente, zurück, suchte nach einer bestimmten Stelle und hielt die Aufnahme dort an, er tat es rasch und mit Erfahrung, er war diese Handgriffe gewöhnt. Es war einer der Momente, in denen der Gefangene fiel, das Seil sich straffte, der Schemel zum Teufel ging und der Lichtkegel kurz und leicht pendelte, mit wenig Kraft und bei jedem Ausschwingen weniger, auch weniger weit. Zwei, nicht mehr als drei minimale Schwünge, aber in diesem Augenblick waren die drei Gestalten im Hintergrund von dem sich bewegenden Kegel erleuchtet, es war ein Sekundenbruchteil, ich sah sie an, es gelang mir nicht, sie ganz zu erkennen, doch etwas Vertrautes war da. »Na, siehst du ihn jetzt?«
    »Warte«, antwortete ich noch unsicher und kniff die Augen zusammen, um deutlicher zu sehen. »Warte.«
    Tupra wartete nicht, er aktivierte den Zoom und vergrößerte ihre Gesichter in einem Rahmen, er hatte einen DVD -Spieler mit Funktionen, die ich von meinem zu Hause in Madrid nicht kannte, in London hatte ich mir noch keinen gekauft. Und dann sah ich deutlich das bekannte quadratische, zerfurchte Gesicht, das der halben Menschheit bekannt ist, der, die fernsieht und die Presse liest, mit der unverwechselbaren Brille und dem Aussehen eines deutschen Arztes oder Chemikers oder eher eines Nazi-Arztes, -Chemikers oder -Wissenschaftlers, sooft ich ihn auf dem Bildschirm oder auf einem Foto sah, hatte es mich keine Mühe gekostet, ihn mir mit weißem Kittel rund um die Krawatte vorzustellen, mehr noch, sein Gesicht schrie fast danach, es brauchte diesen weißen Kittel, es war unstimmig, daß er ihn nicht trug. Er hatte wie alle demokratischen Politiker und Führer der Welt hundertmal öffentlich abgestritten, etwas damit zu tun zu haben, Befehle erteilt zu haben, Praktiken wie diese oder auch weniger brutale, bloße Schikanen, gebilligt oder zugelassen zu haben oder über sie informiert zu sein. Niemand in der Außenwelt wußte, was ich jetzt wußte: daß er ganz im Gegenteil zumindest einmal dem dreifachen halben Erhängen eines an Händen und Füßen gefesselten Individuums beigewohnt und dies buchstäblich mit verschränkten Armen getan hatte, gleichmütig, im Sitzen und als oberste anwesende Autorität, wie er es auch an jedem anderen Ort gewesen wäre, an dem er sich aufhielt. Tupra hatte es schon gesagt, diese Videos waren nicht für jeden bestimmt (ein Journalist hätte Luftsprünge vollführt). Und wenn man sie wie einen Goldschatz hütete, dann deshalb, weil auf ihnen allen jemand Berühmtes oder Mächtiges oder Vermögendes oder Angesehenes oder Einflußreiches festgehalten war – unendlich wiederholbar. Auf den dritten Blick hatte ich es schon vergessen und nur auf das Hauptgeschehen geachtet, wie hätte ich es nicht tun sollen. Vielleicht war dagegen für Tupra das einzige, was zählte, der dunkle Hintergrund oder sein erleuchteter Augenblick. Natürlich hatte er die Szene schon vorher gesehen, sie traf ihn nicht überraschend. Seine Haltung bestätigte mir jedenfalls, daß er den möglichen Tod geringschätzte, daß er aber auch kein Sadist war. Zumindest hatte er keinen Genuß an fremdem Leid, diese Versuche, jemanden zu erhängen, waren ihm gleichgültig oder waren nur der notwendige Rahmen dessen, was ihn interessierte.
    »Ja, jetzt sehe ich ihn«, sagte ich. »Aber warum behältst du das? Er ist Amerikaner, ein Verbündeter, er gehört zu den Euren.« Und ich bemerkte sogleich, daß ich nicht ›zu den Unseren‹ gesagt hatte, was Tupra womöglich logisch gefunden hätte und was es beim jetzigen Stand der Dinge gewesen wäre, ich dachte, daß ich mich fast unmerklich auf sumpfiges Gelände begeben hatte. Ja, ich war

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