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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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ankündigt oder auf einem Platz die unmittelbar bevorstehende, ungeduldig erwartete Hinrichtung. Und nach dreißig Sekunden – oder vielleicht waren es neunzig – wiederholten sie den Vorgang, das heißt, sie hievten den Kapuzenträger auf den Schemel und taten, als wollten sie ihn erhängen, oder das stimmt nicht, sie begannen vielmehr, ihn zu erhängen – der Fußtritt, die gleiche Methode –, und hielten nach kurzer Zeit inne. Dieses Mal verlor der Gefangene einen Schuh bei dem Gezappel, vielleicht dauerte es ein wenig länger als das erste. Es waren normale, alte Schnürschuhe, aber ohne Schnürsenkel. Er trug keine Socken. ›Das ist wie Tupra in der Toilette‹, konnte ich verstört denken, ›als er das Schwert hob und senkte und es wieder hob und senkte. Bei jedem Mal wußte ich nicht, ob er dem Trottel den Kopf abschlagen würde, und jetzt, obwohl das, was er mir zeigt, schon geschehen ist und außerdem sein Ablauf auf dem Video angehalten oder auf einen anderen Tag verschoben werden kann, als wäre es längst egal (die Szene wird da bleiben und sich nie ändern), in diesem Augenblick, weiß ich nicht, ob diese Typen den armen Teufel bei einem ihrer angedeuteten Versuche aufhängen werden, und jetzt will ich es schon wissen, obwohl er ein Unbekannter ist und ich nicht einmal sehe, was für ein Gesicht er hat. Er wußte es damals bestimmt auch nicht, und damals war es keine Vergangenheit. Er war wohl kein junger Mann mehr mit diesen braunen, ausgebeulten Schuhen.‹ Sie zogen ihm den verlorenen an, bevor sie ihn wieder hinsetzten, Geheimnisse der Sorgfalt und der Ordnung. Einer der Soldaten fächelte sich mit einer Hand Luft zu, wedelte sich von oben nach unten vor der Nase herum, als wäre plötzlich von dem Erhängten ein schrecklicher Geruch zu ihm gelangt. Sie sprachen weiterhin kein Wort, niemand sprach, auch nicht die Zuschauer im Dunkeln, und das muß noch angsteinflößender sein für jemanden, der blind und bewegungslos ist, mehr als barsche Stimmen oder Beschimpfungen, es sei denn, sie erfolgten in einer unbekannten Sprache: Die größte Furcht löst es aus, glaube ich, wenn man in einer Situation, in der es um Leben und Tod geht, nicht versteht, was einem gesagt wird.
    Sie wiederholten den Vorgang noch ein drittes Mal, genau gleich, der Kopf des Gefangenen lag außerhalb des Bildausschnitts, dann tauchte er mit dem schon gestrafften Seil wieder auf, der Körper fiel senkrecht ein sehr kurzes Stück herab, damit nichts unwiderruflich wäre bei dem Sturz, der Lichtkegel schwankte einige Augenblicke infolge einer Berührung oder womöglich des Stoßes, vielleicht ließen sie ihn beim zweiten und dritten Mal weniger Sekunden lang hängen, obwohl meine Beklemmung mich täuschte und mir der Ablauf länger vorkam. Das Opfer wurde wohl bei jedem dieser Streiche schwächer, bestimmt hatten sie ihm etwas ausgerenkt und sein Herz raste. Offenbar war ihm nicht die Luftröhre abgequetscht worden, das wäre endgültig gewesen, die Getarnten ließen keine Zeit dazu, gut ausgebildete Leute, sie mußten wissen, ab welchem Augenblick es zu spät war, aber vermutlich wäre es auch nicht besonders schwerwiegend gewesen, wenn ihnen die Hand ausgerutscht wäre und der Mann sich nicht mehr gerührt hätte, vielleicht gab es niemanden auf der Welt, der über sein Schicksal auf dem laufenden war, nicht einmal über seinen Aufenthaltsort. Man sah sie alle relativ ruhig, Henker und Zeugen, eifrig oder aufmerksam, aber ohne Gehässigkeit, als würden sie eine unangenehme Formalität erledigen oder erleben, aber eben doch eine Formalität.
    Tupra hielt das Bild mit dem schon abgehängten und hustenden Gefangenen an, die Beine sehr schwach und verantwortungslos, dieses Mal hatten sie ihn nicht hingesetzt. Die schwarze Kapuze mit ihrer einzigen Öffnung für Mund und Nasenlöcher (aber Klebeband auf dem Mund) hatte er noch immer auf dem Kopf, für die Augen gab es keine. Sie schienen kurz davor, ihn abzuführen, vielleicht zurück in eine Zelle, vielleicht auf die Krankenstation. Nach und nach kehrte sein Keuchen zurück.
    »Na, hast du gesehen?« fragte Tupra. Und in seinem Ton gewahrte ich eine fast amüsierte Erregung, unerklärlich für mich, ich spürte schon das Gift.
    »Was machst du denn«, antwortete ich. »Ich will sehen, wie das ausgeht, ob sie diesen Unglücklichen umbringen.«
    »Die Szene endet hier, es gibt nicht mehr, es kommt eine andere. Also, hast du gesehen?« Tatsächlich sagte er › Did you see him?

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