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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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drinnen und wußte Bescheid, ich befand mich in der Tat auf einer Seite, obwohl ich mich auf keiner fühlte. Und, was noch unerwarteter war und vor einem oder einem halben Jahr undenkbar gewesen wäre: Ich hatte gesehen, was fast allen anderen Augen der Welt verboten war, oder hatte es noch nicht ganz gesehen.
    »Tja. Was macht das schon. Man kann nie wissen.« Er trank aus seinem Glas, ich hatte auf meines längst keine Lust mehr. Er holte eine Rameses II heraus und zündete sie an. Erst danach, als seine Zigarette schon brannte, bot er mir eine an, und das nahm ich entgegen, den Tabak. »Man weiß nicht einmal, wer zu den Unseren gehört, noch, ob er es morgen tut, damit sollte man sich lieber nicht aufhalten. Ich weiß es auch nicht von dir und du nicht von mir. Machen wir weiter.«
    Und die Sitzung, das Einspritzen des Giftes, nahm ihren Fortgang, während seine Stimme an meiner Seite, leicht in meinem Rücken, sich dann und wann mit einer kurzen Anmerkung oder einem Kommentar vernehmen ließ, fast so wie früher bei Diavorführungen mit Projektor und Leinwand, wenn Reisende nach einer damals – zum Beispiel in meiner Kindheit – ungewöhnlichen Fahrt Verwandten oder Freunden die Bilder zeigten und jedes Diapositiv in seinen Zusammenhang stellten und ihnen erklärten: ›Hier stehen wir ganz oben auf dem Empire State Building, dem höchsten Wolkenkratzer der Welt‹, als er es noch war; ›stellt euch vor, was für ein Schwindel‹. Und was für ein Schwindel, wahrhaftig, was für ein Schwindel, der mich bei jeder neuen Szene erfaßte. Einige waren harmlos, noch mehr bei ganz normalen sexuellen Akten ertappte Leute, deren Verhalten aber, wenn es veröffentlicht oder von Zeugen gesehen wird, sich auf seltsame Weise in etwas Anormales verwandelt, vor allem bei Berühmtheiten oder sehr seriösen Menschen oder solchen eines gewissen Alters oder Respektspersonen, objektivierter Sex hat immer etwas Bemühtes und Lächerliches, man begreift nicht, warum es heute so viele Menschen gibt, die sich dabei aus Spaß filmen, um sich hinterher an der teilweisen Peinlichkeit zu ergötzen. Es gab auch Personen, die Bestechungsgelder anboten und annahmen, die eine oder andere Summe in bar, das eine oder andere mir bekannte Gesicht, eines von einem Spanier oder eher von einer Spanierin, diese Blondine, was für eine Heuchlerin, doch das alles spielte Tupra im Schnelldurchlauf ab und kehrte erst wieder zur realen Geschwindigkeit zurück, wenn die Szene gewalttätig und ungewöhnlich war. Ungewöhnlich für mich, versteht sich; nicht für ihn natürlich; wer weiß, ob für Pérez Nuix und Mulryan und Rendel, es war möglich, daß sie niemals Bilder wie diese gesehen hatten oder daß sie bestens informiert waren und sie in- und auswendig kannten; wer weiß, ob für Wheeler, oder vielleicht hatte er Entsprechendes zur Genüge im Lauf seines jungen Lebens betrachtet, und nicht auf dem Bildschirm. Aber ich nicht, ich hatte niemals eine Hinrichtung gesehen, außer im Film oder in der letzten Zeit im Fernsehen, das zwar Nachrichten sendet, die aber so fiktiv wirken wie das Kino selbst, drei Männer und eine Frau am Ufer eines Meeres, die ruhig dastehen und warten, mit freien Händen, sie waren verloren, weshalb sollte man sie fesseln, ein frühes Morgenlicht, ich erinnerte mich augenblicklich an dieses Gemälde im Querformat, das sich in Madrid befindet, Gisbert heißt der Maler, oder dieser Name kam mir in den Sinn, die Erschießung von Torrijos und seinen liberalen Gefährten in Málaga, Sand war zu sehen und Wellen waren zu sehen, vielleicht etwas Landschaft im Hintergrund, vielköpfig die Gruppe der Verurteilten, als ich es später, schon im Morgengrauen, im Internet suchte, stellte ich fest, daß es sechzehn waren, wenn man die Frau und das Kind mitzählte, die einer von ihnen in den Armen hielt, aber sicher verabschiedete sich diese Familie nur von ihrem angehenden Toten und würde nicht das gleiche Schicksal erleiden wie der Ehemann und Vater, in jedem Fall waren sie vierzehn und vier mehr, die bereits getroffen am Boden lagen, mit verbundenen Augen und neben einem Zylinder, den ein Leichnam vielleicht hartnäckig aufbehalten hatte bis zu dem Augenblick, da er begann, einer zu sein, sie fanden sich bestimmt in Partien ein, da man nicht nachkam, mehr als fünfzig fielen dort im Jahr 1831 (›Man brachte ihm und seiner Schar in tiefer, dunkler Nacht den Tod‹, erinnerte ich mich an die Romanze des guten Lorca, zitierte ich für

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