Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
Hauptmann Bonanza Rendel oder die junge Nuix (und ich dachte: hoffentlich war sie es) im reservierten Abteil saßen und auf den Leutnant, aber so gut wie sicher auch auf mich geachtet und danach ihren objektiven Bericht über mich abgeliefert hatten, nicht nur über den Unteroffizier (meine Erinnerung degradierte ihn zusehends, den Mann), stets objektiver und leidenschaftsloser und verläßlicher der Bericht von einem, der unsichtbar und nicht da ist und straflos nach Belieben schaut, immer mehr als der Bericht von einem, der seinerseits von seinen Gesprächspartnern angeschaut wird, der eingreift und spricht und sich nie lange bei seiner stummen Beobachtung aufhalten kann, ohne große Spannungen zu erzeugen, eine explosive Situation.
Das ist zweifellos der Erfolg des Fernsehens, denn in ihm sieht und betrachtet man die Leute, wie man es niemals in der Wirklichkeit tun kann, es sei denn, man verstecke sich, und auch dann hat man nur einen einzigen Blickwinkel und eine einzige Entfernung oder zwei, wenn man ein Fernglas benutzt, ich stecke es mir bisweilen in die Tasche, wenn ich aus dem Haus gehe, und im Haus habe ich es immer in Reichweite. Dagegen bietet der Bildschirm die Gelegenheit, ohne Vorsicht zu spionieren und mehr zu sehen und daher mehr zu wissen, weil man nicht auf die erwiderten Blicke achtet und sich nicht seinerseits in Gefahr begibt, beurteilt zu werden, und seine Konzentration oder Aufmerksamkeit nicht teilen muß zwischen einem Dialog (oder seinem Schein), an dem man beteiligt ist, und dem kalten Studium eines Gesichts, bestimmter Gesten, des Tonfalls, einiger Poren, der Ticks und des Gestammels, der Pausen und der trockenen Münder, der Fiebrigkeit, der Falschheiten. Man urteilt unvermeidlich, man äußert sofort irgendein Urteil welcher Art auch immer (oder man äußert es nicht, und es bleibt innerlich), man braucht nicht mehr als ein paar Sekunden, und man vermag nichts dagegen, auch wenn es rudimentär ist und von allen Formen die gröbste annimmt, Gefallen oder Mißfallen (die jedoch bereits Urteile sind oder ihre mögliche Vorwegnahme, was ihnen vorauszugehen pflegt, obwohl viele Leute niemals den Schritt tun und die Linie überschreiten und daher niemals aus ihrem simplen, unerklärlichen Angezogensein oder Abgestoßensein herauskommen: für sie unerklärlich, da sie nie diesen Schritt tun und stets an der Oberfläche bleiben). Und man ertappt sich dabei, wie man sich unwillkürlich sagt, allein vor dem Bildschirm: ›Er ist mir sympathisch‹, ›Diesen Typen kann ich nicht ausstehen‹, ›Die würde ich am liebsten abküssen‹, ›Zum Abschießen‹, ›Der könnte von mir kriegen, was er will‹, ›Die würde ich ohrfeigen für ihr Gesicht‹, ›Ein dünkelhafter Typ‹, ›Sie lügt‹, ›Sein Mitleid ist falsch‹, ›Dem wird das Leben übel mitspielen‹, ›Was für ein Einfaltspinsel‹, ›Sie ist ein Engel‹, ›Ein eingebildeter, hochmütiger Typ‹, ›Unerträglich, diese beiden Spießer‹, ›Die Arme, die Arme‹, ›Den würde ich auf der Stelle über den Haufen schießen, ohne mit der Wimper zu zucken‹, ›Sie tut mir leid‹, ›Sie macht mich rasend‹, ›Er heuchelt‹, ›Wie naiv‹, ›Eine irre Visage‹, ›Was für eine intelligente Frau‹, ›Wie er mich anwidert‹, ›Ein witziger Typ‹. Das Register ist unendlich, alles findet darin Platz. Und das augenblickliche Urteil ist richtig oder so empfindet man es in diesem Moment (im zweiten Augenblick nicht mehr so sehr). Man hat eine Überzeugung, ohne sich auf ein einziges Argument zu stützen. Ohne daß irgendein Grund sie trägt.
Deshalb übergab man mir auch Videos. Manchmal sah ich sie gleich dort an, in dem namenlosen Gebäude mit nichts als einer Nummer, ohne Namensschild oder Firmenschild und ohne offensichtliche Funktion, allein oder in Begleitung der jungen Nuix oder von Mulryan oder Rendel; und manchmal nahm ich sie mit nach Hause, um sie ausführlicher anzuschauen und besser zu entschlüsseln und dann meinen Bericht abzuliefern, fast immer nur mündlich, selten verlangten sie einen schriftlichen oder nicht allzu oft später, ich glaube, ich habe eine ganze Reihe abgefaßt.
Auf diesen Videos war alles mögliche, sehr heterogenes Material, oft vermischt, fast zusammengewürfelt auf einigen Bändern, auf anderen mit mehr Sachverstand geordnet und verteilt, sogar mit Tendenz zur Monographie: Fragmente von Sendungen oder Nachrichten, die öffentlich ausgestrahlt worden waren, aufgenommen vom
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