Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
Ambitionen, Bedingungslosigkeiten, Schwächen, Stärken, Wahrhaftigkeiten und Mißbilligungen zu entziffern; Unentschiedenheiten. Ich deutete – in drei Worten – Geschichten, Menschen, Leben. Oftmals noch ungeschehene Geschichten. Menschen, die sich selbst nicht kannten und die nicht ein Zehntel dessen, was ich an ihnen sah oder man mich an ihnen zu sehen und auszudrücken bat, über sich hätten vorbringen können, das war die Arbeit. Leben, die noch jung mißlingen konnten, die vielleicht nicht einmal lange genug dauern würden, um sich so zu nennen, unbekannte und ungelebte Leben. Bisweilen bat man mich, bei Gesprächen oder Treffen (oder es waren gesittete Verhöre, ohne Einschüchterungen) anwesend zu sein und beim Fragen zu helfen, was immer mir einfiel, obwohl es keine Verständigungsschwierigkeiten gab und keine Sprache zu übersetzen, alles auf englisch und unter Briten. Andere Male dagegen wurde ich als Dolmetscher der Sprache eingesetzt, der spanischen und auch der italienischen, doch im großen ganzen der Gespräche und Supervisionen (so hieß die stumme Tätigkeit) geschah dies bald immer weniger, ohnehin beschränkte ich mich nicht mehr nur darauf, Worte zu übertragen, man forderte von mir meine Wertung am Ende, gelegentlich fast meine Prognose, wie soll ich sagen, eine Wette. Andere Male hatte man mich lieber als abwesende Anwesenheit, und ich verfolgte die Gespräche zwischen Tupra oder Mulryan oder der jungen Nuix oder Rendel und ihren Besuchern von einer Art Kabine aus, die an das Büro des ersteren angrenzte und das dortige Geschehen zu sehen und zu hören erlaubte, ohne gesehen zu werden, genau wie auf den Polizeirevieren. Was in Tupras Büro ein ovaler Spiegel im Querformat war, entsprach in diesem kleinen Zimmer einem Fenster von gleicher Größe und Form: durchsichtiges Glas von der einen Seite, von der anderen mit Quecksilber überzogenes, das nicht den geringsten Verdacht weckte inmitten der vielen Bücher und in einem Raum, der eher ein Klub oder ein privates Wohnzimmer zu sein schien als ein Büro. Dieses Versteck war eine altmodische, hausgemachte Variante der unsichtbaren Lokalitäten, von denen aus die Opfer eines Überfalls oder die Zeugen eines Verbrechens die aufgereihten Verdächtigen identifizieren oder die Vorgesetzten im Verborgenen die Verhöre der Verhafteten kontrollieren und darauf achten, daß den Polizisten bei den Ohrfeigen oder den Schlägen mit nassen Handtüchern nicht zu sehr die Hand ausrutscht. Es mußte eine Pionierkonstruktion sein, vielleicht passend oder angefertigt in den vierziger oder sogar in den dreißiger Jahren: sie schien als kleinformatige Nachahmung eines Zugabteils jener oder sogar einer früheren Zeit konzipiert worden zu sein, alles Holz, zwei schmale Sitzbänke einander gegenüber, im rechten Winkel zu dem ovalen Fenster, und zwischen den beiden ein festgeschraubter kleiner Tisch, um Notizen zu machen und die Ellbogen aufzustützen. Das heißt, man überwachte zwangsläufig in einer schrägen oder seitlichen Körperhaltung, mit dem unvermeidlichen Gefühl, aus dem Fenster eines Eisenbahnwagens zu schauen, während man fuhr oder vielmehr die ganze Zeit an einem Bahnhof hielt, ein seltsamer Büro-Bahnhof, gemütlich wie es sie nie gegeben hat, die Landschaft ein Interieur und immer dasselbe, in ihm wechselten nur die Personen, die Besucher und die Gastgeber, letztere in begrenzter Vielfalt, gewöhnlich waren es zwei oder höchstens drei, Tupra und Mulryan oder alle beide und ich selbst (wie im Fall des Comandante Bonanza) oder Tupra und die junge Nuix und Rendel, wenn man deutsch oder russisch oder holländisch oder ukrainisch sprechen mußte (es hieß, Rendel sei österreichischer Herkunft und sein Name habe ursprünglich Rendl oder Randel oder Redl oder Reinl oder sogar Handl gelautet, man hatte ihn wohl halbwegs anglifiziert, Randall oder Rendell oder Rendall oder Randell wären wahrscheinlicher gewesen, nicht so Händel) oder Mulryan und ich und irgendein anderer weniger regelmäßig Teilnehmender oder die junge Nuix, Tupra und ich … Er und Mulryan (beziehungsweise einer der beiden) fehlten nie. Und da ich bisweilen an der Reihe war, den Kontrollstand einzunehmen, mußte ich davon ausgehen, daß, wenn ich auf der anderen Seite war, im Büro-Bahnhof, einer der Abwesenden dort Stellung bezogen hatte und uns kontrollierte, obwohl ich am Anfang keine völlige Gewißheit besaß; und ich mußte mir vorstellen, daß bei jenem ersten Mal mit
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