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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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Möglichkeit gelten lassen. Dann werden sie sich ihres Wertes bewußt und bekommen Angst, zu enttäuschen, oder – was lächerlicher und törichter ist, aber so lautet nun mal die Formel – nicht auf der Höhe ihrer selbst zu sein, das heißt desjenigen, der sie, wie sich jetzt herausstellt, bei ihrem so hohen vorherigen Werk waren – jetzt sagt man es ihnen, jetzt wird es ihnen klar. ›Es war also kein Produkt des Zufalls, auch nicht meiner Intuition, nicht einmal meiner Freiheit‹, mögen sie denken, ›vielmehr gab es Kohärenz und Intention in dem, was ich tat, was für eine Ehre, daß ich das erfahre, aber auch was für ein Fluch. Denn jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, als mich daran zu halten und jedes Mal dieses verdammte Niveau zu erreichen, um nicht hinter mich selbst zurückzufallen, wie furchtbar, was für eine ungeheure Anstrengung und wie trostlos die Aussicht für mein Tun.‹ Und das kann jedem passieren, auch wenn seine Arbeit und seine Person nicht öffentlich sind, es genügt, wenn er eine plausible Erklärung seiner Neigungen oder seines Vorgehens hört, eine berückende Beschreibung seines Handelns oder eine Analyse seines Charakters, eine Wertung seiner Methode – zu wissen, daß so etwas existiert oder daß man es ihm zuschreibt –, damit jeder seinen gesegneten, veränderlichen, unvorhersehbaren, ungewissen Kurs und damit seine Freiheit verliert. Wir tendieren zu der Überzeugung, daß es eine verborgene, uns unbekannte Ordnung gibt und auch einen Plot, dessen bewußter Teil wir sein möchten, und wenn wir eine einzige Episode davon erahnen, in die wir hineinpassen oder hineinzupassen scheinen, wenn wir gewahren, daß sie uns einen Augenblick lang in ihr schwaches Rad aufnimmt, dann kann es leicht geschehen, daß wir nicht mehr imstande sind, uns wieder losgelöst von diesem flüchtig erblickten, partiellen, erahnten Plot – eine Einbildung – zu sehen, niemals mehr. Nichts Schlimmeres, als den Sinn zu suchen oder zu glauben, daß es ihn gibt. Oder schlimmer noch, wenn es ihn gäbe: zu glauben, daß der Sinn von etwas, sei es auch der kleinsten Einzelheit, von uns oder von unseren Handlungen abhängen wird, von unserer Absicht oder unserer Funktion, zu glauben, daß es Willen, daß es Bestimmung gibt und sogar eine mühsame Kombination von beiden. Zu glauben, daß wir uns nicht ganz und gar dem erratischsten und vergeßlichsten, dem zügellosesten und kopflosesten Zufall verdanken und daß man von uns aufgrund dessen, was wir bereits gesagt oder getan haben, gestern oder vorgestern, etwas Folgerichtiges erwarten kann. Zu glauben, daß es in uns Kohärenz und Überlegung gibt, wie der Künstler sie in seinem Werk zu sehen glaubt oder der Mächtige in seinen Entscheidungen, aber nur nachdem jemand sie davon überzeugt hat, daß es sie gibt.
    Wheeler hatte schließlich mit dem Anfang begonnen, wenn es denn jemals den Anfang von etwas gibt. Wie auch immer, an jenem Sonntagmorgen, an dem ich später erwachte, als ich gewollt hätte und natürlich als er erwartet hatte, erlaubte er sich keine Einleitungen oder Verzögerungen oder Umschweife mehr, soweit es ihm möglich war, auf diese steten Merkmale seines Denkens und Sprechens gänzlich zu verzichten. An den unvollständigen Worten, über die er gebot, um mir das zu erzählen, was er mir erzählen wollte, hatte er schon Geheimnis und Beschränkung genug, nehme ich an. Sobald er mich die Treppe herunterkommen sah, schlecht rasiert und mit unausgeschlafenem Gesicht (nur ein rasches Drüberfahren mit dem Rasierapparat, um präsentabel auszusehen oder wenigstens nicht wie ein Knastbruder), forderte er mich auf, ihm gegenüber und rechts von Frau Berry Platz zu nehmen, die am Kopfende des Tisches saß, an dem die beiden bereits gefrühstückt hatten. Er wartete, bis sie mir freundlich Kaffee eingeschenkt hatte, aber nicht, bis ich ihn getrunken hatte oder noch ein wenig wacher geworden war. Auf der Tischhälfte, die frei war von Decke und Tellern und Tassen und Marmeladen und Obst, lag aufgeschlagen ein großer, dicker Band, immer Bücher überall. Es genügte, daß ich einen Blick aus dem Augenwinkel auf ihn warf (die Anziehungskraft des gedruckten Worts), damit Peter mir in drängendem Ton sagte, wahrscheinlich aufgrund meines späten Erwachens, mit dem er nicht gerechnet hatte:
    »Nimm es, komm. Es liegt da, damit du es dir ansiehst.«
    Ich zog den Band zu mir heran, aber bevor ich eine Zeile las, klappte ich ihn halb zu – den

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