Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
Vom Netzwerk:
zugleich überhaupt nicht erwartete, so sicher wirkte er beim Sprechen. Soweit das britische Material, das natürlich den Hauptteil bildete. Mir wurde bewußt, wie viele Gelegenheiten und Orte es gab, an denen Leute aufgenommen und gefilmt werden oder dies möglich ist: angefangen bei fast allen Situationen, in denen wir uns sozusagen einer Probe oder einem Examen unterziehen und um etwas bitten, sei es Arbeit, ein Darlehen, eine Chance, einen Gefallen, eine Subvention, eine Empfehlung, ein Alibi. Und natürlich Gnade. Ich sah, daß wir immer, wenn wir bitten, preisgegeben, verkauft, fast völlig dem ausgeliefert sind, der gewährt oder nicht. Heute registriert, verewigt man uns oft im Augenblick der größten Demut oder, wenn man so will, der Demütigung. Aber auch an jedem öffentlichen oder halböffentlichen Ort, das auffälligste und skandalöseste waren die Hotelzimmer, man rechnet ja schon grundsätzlich damit, daß man in einer Bank, einem Geschäft, einer Tankstelle, einem Spielkasino, einem Sportplatz, einem Parkhaus, einem Regierungsgebäude aufgenommen wird.
    Selten teilte man mir vorher mit, worauf ich achten sollte, welche Charakterzüge oder welches Maß an Aufrichtigkeit oder welche konkreten Absichten der jeweils bezeichneten Person oder des jeweiligen Gesichts ich zu entziffern suchen sollte, ich meine, wenn ich mir die Arbeit mit nach Hause nahm. Am nächsten Tag oder ein paar Tage später verbrachte ich eine Sitzung mit Mulryan oder Tupra oder mit beiden, und dann fragten sie, was immer sie interessierte, manchmal eine einzige, winzige Sache und manchmal sehr ausführlich, je nachdem, wobei sie sich auf die Personen dieser Videos mit ihren jeweiligen Namen bezogen, wenn diese in den Filmen vorkamen oder unverwechselbar waren aufgrund ihrer Bekanntheit, oder aber mit den ihnen zugewiesenen Buchstaben und Zahlen: »Glauben Sie, daß Mr. Stewart den Fiskus erneut betrügt, trotz seiner bedauernden Worte? Man kam ihm vor fünf Jahren auf die Schliche, man gelangte zu einer Vereinbarung, er zahlte mehr als den Höchstbetrag, um sich Probleme zu ersparen, könnte er denken, er sei deshalb über jeden Verdacht erhaben?« »Glauben Sie, daß FH6 vorhatte, den Kredit zurückzuzahlen, als er ihn von Barclays erbat? Oder hatte er da schon nicht die geringste Absicht? Er wurde ihm gewährt, müssen Sie wissen, und seit drei Monaten fehlt jede Spur von ihm.« Ich antwortete, was ich glaubte oder konnte, und man ging zum nächsten über, in den kürzeren, eher praktischen und prosaischen Fällen. Der Großteil war jedoch alles andere als das, vielmehr schwer faßbar, komplex, oft flirrend und sogar ätherisch, immer riskant zu beantworten, eher denen gleich, die Wheeler zu seiner Zeit aufgehellt und auch für meine angekündigt oder von denen er zu verstehen gegeben hatte, daß sie auf mich zukommen würden, obwohl es jetzt keinen Krieg gab; daß sie früher oder später meinem Urteilsvermögen unterliegen würden. Und für diesen Großteil brauchte man in der Tat das, was er beiläufig »den Mut zu sehen« und »die Verantwortungslosigkeit zu sehen« genannt hatte, als wollte er diesen beiden Ausdrücken, die nur auf den ersten Blick oder nicht einmal bei diesem widersprüchlich waren, etwas von ihrer Feierlichkeit nehmen. Ich fühlte sehr viel mehr das zweite während langer Zeit, bis ich mich eines Tages gewöhnte und mir durch die Gewöhnung keine Sorgen mehr machte. Und dann … ja dann, das ist wahr, die große Verantwortungslosigkeit.
    Diesen Gewöhnungsprozeß hatte indes bereits Wheeler an jenem Sonntag in Oxford in Gang gesetzt, an dem er mit mir auch über mich sprach. Oder vielleicht Toby Rylands, der seinerseits Wheeler zuvor von mir erzählt und auf mich als ihresgleichen verwiesen hatte, aus dem gleichen Holz geschnitzt wie sie beide. Doch nein, Rylands war es nicht, denn was die Dinge ändert, ist nicht das, was über einen gesagt wird, ohne daß man es weiß – das ändert sie nicht in unserem Innern –, sondern das, was uns jemand mit Bestimmtheit oder nur mit Beharrlichkeit über uns ins Gesicht sagt, was er erkennt und erklärt und uns glauben macht. Das ist die Gefahr, die auf jeden Künstler oder Politiker oder auf jede Person lauert, deren Tätigkeit Gegenstand von Meinungen und Deutungen ist. Einen Filmregisseur, einen Schriftsteller, einen Musiker beginnt man als Genie, als Geistesgröße, als Neuerfinder, als Giganten zu bezeichnen, und am Ende werden sie unschwer alles als

Weitere Kostenlose Bücher