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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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Fernsehen, später gekürzt und zusammengeschnitten (oder ganze Sendungen, die ich mir antun mußte, neue oder alte und sogar über tote Leute wie Lady Diana Spencer mit ihrem miserablen Englisch voller Fehler und den Schriftsteller Graham Greene mit seinem ausgezeichneten Englisch); parlamentarische Einlassungen und Reden oder Pressekonferenzen mit bekannten oder obskuren Politikern, britischen und ausländischen, auch mit Diplomaten; Verhöre von Angeklagten in polizeilichen Dienststellen und ihre späteren Aussagen vor dem jeweiligen Gericht sowie die Urteile oder Ermahnungen perückentragender Richter, ziemlich viele Videos mit strengen Richtern, ich weiß nicht, warum; Interviews mit Berühmtheiten, die nicht immer wirkten, als seien sie von Journalisten geführt worden und für die Vorführung bestimmt. Einige sahen ganz nach formlosen oder mehr oder minder privaten Unterhaltungen aus, vielleicht mit Neugierigen oder mit fingierten Bewunderern (ich erinnere mich, eine unsägliche mit dem ziemlich beschwipsten Sänger Elton John gesehen zu haben, eine weitere sehr sympathische mit dem Schauspieler Sean Connery, dem echten James Bond, den Rosa Klebb in Liebesgrüße aus Moskau mit den Füßen getreten hatte, tödliche Dornen, und eine weitere ebenfalls amüsante mit dem Ex-Fußballer und Trinker George Best; eine haarsträubende mit dem Unternehmer Murdoch und eine ziemlich pompöse und komische mit Lord Archer, dem ehemaligen Politiker – zur damaligen Zeit bereits verurteilt, weil er bei etwas gelogen hatte, ich habe vergessen, bei was – und eigenwilligen Romancier); andere Male kamen mir die Gesichter bekannt vor, aber sie waren nicht so berühmt, daß ich sie hätte identifizieren können, vielleicht allzu lokale Berühmtheiten (nicht immer erschien eine Anzeige mit dem Namen dessen, der sprach, es konnte auch geschehen, daß es überhaupt keinen Hinweis gab, nur ein paar Buchstaben und Zahlen für jedes Gesicht, das als wichtig oder als Gegenstand der Deutung kenntlich gemacht war – A2, BH13, Gm9 und so weiter –, auf die ich mich dann in meinen Berichten beziehen konnte); und es gab auch Gespräche oder Szenen mit anonymen Personen unter verschiedenen Umständen, die oft, wie ich glaubte, ohne ihr Wissen und damit ohne ihre Zustimmung gefilmt worden waren: Jemand, der um Arbeit bat oder sich anbot, egal für was, einige sehr verzweifelt; ein granitener Beamter (verdrehte Augen), der einem sorgenvollen Bürger zuhörte, wahrscheinlich in seinem kommunalen oder ministeriellen Büro; ein Paar, das sich in einem Hotelzimmer stritt; eine Person, die in einer Bank um einen unvorteilhaften Kredit bat; vier Fans des Chelsea in einem Pub, die sich mit Hilfe von hineingeschüttetem Alkohol und herausgebrüllter Begeisterung darauf vorbereiteten, den Liverpool zu vernichten; ein Geschäftsessen irgendeines Unternehmens mit etwa zwanzig Tischgästen (zum Glück nicht vollständig, nur ein paar Highlights und eine Rede zum Schluß); ein don , der eine stinklangweilige Unterrichtsstunde hielt; gelegentlich ein Vortrag (leider nicht vollständig, ich sah den hochinteressanten eines Professors aus Cambridge über Literatur, die nie existierte); die Predigt eines anglikanischen Bischofs, der leicht betrunken wirkte (die Predigt allerdings vollständig); mündliche prelims für Studenten, die in diese oder jene Universität aufgenommen werden wollten; ein selbstgefälliger Arzt, der detail- und wortreich diagnostizierte; junge Mädchen, die merkwürdige Fragen während eines Castings beantworteten, vielleicht für einen Werbespot oder etwas Niedrigeres, zu einsilbig das Ganze, um den Versuch zu machen, etwas herauszubekommen. Bisweilen gab es unzweifelhaft häusliche oder sehr persönliche und folglich rätselhaftere Videos (ich konnte nicht umhin mich zu fragen, wie sie zu uns und damit mir vor Augen gekommen waren, es sei denn, unter unseren Kunden konnten auch Privatpersonen sein): die patriarchalischen Weihnachtsgrüße eines Abwesenden, der sich ersehnt und damit in Schuld fühlte; die Botschaft eines reichen Mannes (vermutlich postum oder dazu bestimmt), der seinen Erben und Enterbten den Grund für sein willkürliches, launisches, enttäuschendes, bewußt ungerechtes Testament darlegte; die Liebeserklärung eines geständigen (aber eher eingebildeten) krankhaft Schüchternen, der versicherte, er sei unfähig, ›live‹ das Nein der Adressatin zu ertragen, das er unweigerlich zu erwarten behauptete und

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