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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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ohne seine Begleitung vorwagte, immer weiter vor und mit immer weniger Vorbehalt.
    Ich hielt es nicht weiter für verwunderlich, daß ich mich selbst erschreckte an einem regnerischen Abend mit fast menschenleeren Straßen und ohne ein einziges freies Taxi, auf das ich bereits verzichtet hatte; daß meine Nerven bloßlagen und alles mich zusammenfahren ließ, meine tönenden nassen Schuhe, das anarchische Peitschen meiner Mantelschöße, die beprasselte Kuppel meines Regenschirms, die der Asphalt mir schwimmend zurückspiegelte auf den helleren Wegstücken, wenn ich die schon seit der Dämmerung melancholischen Baudenkmäler auf den zahlreichen Plätzen passierte, das metallische Grillengezirpe, das durch meinen schwankenden Gang im böigen nächtlichen Wind erzeugt wurde, womöglich die realen schwerelosen Tritte irgendeines verirrten Hundes, den ich nicht sah, aber der mir tatsächlich in purer Ermangelung eines anderen Kandidaten folgte – es gab ganze Straßenzüge, in denen mir niemand begegnete –, vielleicht zur Tarnung, bevor man ihn einfangen würde, wenn man ihn allein sähe. Tis tis tis. Ich nahm alle meine durch das Wasser veränderten Gerüche wahr: nach feuchter Seide und nach feuchtem Leder und nach feuchter Wolle, und vielleicht schwitzte ich auch, keine Spur mehr jetzt von meinem morgendlichen Kölnischwasser. Tis tis tis, ich wandte den Kopf, und da war nichts und niemand, nur die Unruhe in meinem Nacken und das Gefühl der Bedrohung – oder nur Überwachung –, das meine sämtlichen gleichmäßigen, regelmäßigen Schritte begleitete – eins, zwei, drei und vier –, als marschierte ich endlos vorwärts mit meinem Gewehr-Regenschirm oder meinem Lanzen-Regenschirm, auch wenn seine wahre Funktion die eines schwachen, geräumigen Helmes oder eines unsicheren Schildes in der Hand war, der bebte und schwankte. ›Ich bin mein eigener Schmerz und mein eigenes Fieber‹, dachte ich, während ich zu erschrecken glaubte, ›ich selbst muß es wohl sein.‹
    Nein, es war nicht seltsam. Wer seine Tage damit verbringt, zu begutachten, zu prognostizieren und sogar zu diagnostizieren – von Prophezeiungen wollen wir vorerst nicht reden –, und dabei oft ohne Begründung urteilt, wer darauf beharrt, gesehen zu haben, obwohl er wenig oder nichts gesehen hat – oder überhaupt nur so tut –, wer die Ohren spitzt auf der Suche nach merkwürdiger Emphase oder Unschlüssigkeit, nach überstürztem oder bebendem Sprechen, und auf die Wahl der Worte achtet, wenn die Beobachteten über soviel Wortschatz verfügen, daß sie zwischen mehreren wählen können (und das kommt nicht oft vor, manche finden nicht einmal das einzig mögliche, und dann muß man sie führen und es ihnen nahelegen, und es ist leicht, sie zu manipulieren), wer das Auge schärft, um die angestrengt undurchsichtigen Blicke und das übertriebene Blinzeln zu erkennen, das Verziehen einer Lippe bei der Vorbereitung ihrer Lüge oder den zitternden Kiefer des konfusen Ehrgeizlings, und die Gesichter ausforscht, bis er sie nicht mehr wie lebende und in Bewegung befindliche Gesichter sieht, sondern wie Bilder betrachtet oder wie Schlafende oder Tote oder wie Vergangenes; wer zur Aufgabe hat, seiner Wahrnehmung nicht zu trauen, nimmt am Ende alles in diesem verdächtigen, argwöhnischen, interpretierenden Licht wahr, das unvereinbar ist mit dem Anschein, mit dem Offenkundigen und Klaren; oder besser gesagt: mit dem, was ist. Und dann vergißt man leicht, daß das, was an der Oberfläche oder auf den ersten Blick erkennbar ist, bisweilen alles sein kann, ohne Doppelbödigkeit, ohne Falsch und ohne Geheimnis, denn manche verbergen nicht, weil sie nicht wissen, wie man es anstellt, oder weil sie nicht einmal den Begriff und die Praxis des Verbergens kennen.
    Ich ging schon seit Monaten fast täglich meiner Arbeit nach, selten war der Tag, an dem man mich ganz davon befreite, in dem namenlosen Gebäude zu erscheinen, sei es auch nur kurz, um über das zu informieren, was ich zuvor zu Hause analysiert und erfaßt oder beschlossen hatte. Ich hatte ein gutes Stück Weg im typischen Prozeß der Kühnheit (wenn nicht eher der Großtuerei) zurückgelegt. Am Anfang sagt man oft ›Ich weiß nicht‹, ›Es entzieht sich meiner Kenntnis‹; oder, um abzuschwächen und sich soweit es geht bedeckt zu halten: ›Könnte gut sein‹, ›Ich würde wetten, daß …‹, ›Ich bin nicht sicher, aber …‹, ›Ich halte es für möglich‹, ›Vielleicht

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