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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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was an, dieser Fluß ist trügerisch, er dringt in die Knochen, ohne daß man es merkt.« Und dann fügte er mit seinen abermals mineralischen Augen ernst und ruhig hinzu (oder eher behutsam, als hielte er mich mit seinen Worten fest und wollte mich nicht vertreiben): »Hör zu, Jacobo: Toby zufolge hast du die seltene Gabe, bei den Menschen das zu sehen, was nicht einmal sie selbst sehen können oder zu sehen pflegen. Oder wenn sie es sehen oder ahnen, dann schrecken sie sofort davor zurück: sie werden einäugig im aufblitzenden Licht, und dann schauen sie sich nur noch mit dem blinden Auge an. Das ist eine heute sehr seltene Gabe, sie kommt immer weniger vor, die Gabe, die Leute durch sie selbst und direkt zu sehen, ohne Vermittlung und ohne Skrupel, ohne guten Willen, aber auch ohne bösen Willen, ohne sich zu ereifern, wie soll ich sagen, ohne Voreingenommenheit und ohne Zimperlichkeit. Das ist es, worin du wie wir sein kannst, Jacobo, Toby zufolge, und ich bin jetzt einverstanden damit. Wir beide haben so gesehen, ohne Vermittlung und ohne Skrupel, ohne guten Willen noch bösen. Wir haben gesehen. Damit haben wir unseren Dienst geleistet. Und ich sehe immer noch.«

E ines Abends in London glaubte ich, mir selbst einen Schrecken eingejagt zu haben, nachdem ich zunächst geglaubt hatte, daß jemand mich verfolgte und womöglich bedrohte. Es kann der Regen gewesen sein, dachte ich, als ich ersteres glaubte, der die Schritte auf dem Pflaster klingen läßt, als würden sie Funken schlagen oder als wollten sie es polieren, das rasche Bürsten der alten Schuhputzer; oder das Geräusch der Reibung meines Regenmantels an meiner Hose, bei meinem schnellen Schritt (das Geräusch der beiden losen, flatternden Schöße bei offenem Mantel, die ebenfalls den Windstößen ausgeliefert waren); oder der Schatten meines eigenen aufgespannten Regenschirms, den ich die ganze Zeit wie eine in meinem Rücken dräuende Unruhe spürte, ich hielt ihn etwas geneigt, tatsächlich hatte ich ihn über die Schulter gelegt, wie man ein Gewehr oder eine Lanze beim Defilieren trägt; oder vielleicht das leise Quietschen seiner durch die Windstöße mitgenommenen Speichen. Ich hatte das beständige Gefühl, daß man mir in einer gewissen Nähe folgte, ab und zu hörte ich so etwas wie die raschen, kurzen Tritte eines Hundes, Pfoten, die immer wie auf glühenden Kohlen zu laufen und abheben zu wollen scheinen, so wenig stützen sie ihre achtzehn unsichtbaren Zehen auf den Boden, man könnte meinen, sie sind ständig kurz davor, zu springen oder sich emporzuschwingen. Tis tis tis, das war das Geräusch, das mich begleitete, das war es, was ich hörte und was mich veranlaßte, mich alle paar Schritte umzudrehen, ein rasches Wenden des Halses, ohne stehenzubleiben oder mein Gehen zu verlangsamen, durch den Wind erfüllte der Regenschirm seine Aufgabe nur halb, ich lief mit gleichbleibender Geschwindigkeit, ich hatte es eilig, nach Hause zu kommen, ich kehrte von einem zu langen Tag in dem namenlosen Gebäude zurück, und es war spät für London, wenn auch nicht für Madrid, ganz und gar nicht (aber in Madrid war ich nie mehr); ich hatte nur ein paar Sandwichs zu Mittag gegessen, vor sehr vielen Stunden und noch mehr Gesichtern, das eine oder andere aus dem reglosen Zugabteil oder holzverkleideten Kontrollstand beobachtet, aber die meisten auf Video, die Stimmen gehört oder eher belauscht, ihre aufrichtigen oder angeberischen, verzagten oder falschen, verschmitzten oder großsprecherischen, zweifelnden oder ungenierten Töne. Die Anstrengung des Erfassens, der Nuancierung, zu der man mich zwang, war nicht gering, und ich hatte den Eindruck, daß sie ständig zunehmen könnte: Je mehr man die Erwartungen befriedigt, um so größer werden sie und um so subtilere und genauere Angaben werden gefordert. Hatte ich schon bald (vielleicht schon seit dem Unteroffizier Bonanza) ausgehend von meinen Intuitionen fabuliert, so versetzte mich jetzt das Ausmaß an Verantwortungslosigkeit und Fiktion, zu dem mich Tupra, Mulryan, Rendel und Pérez Nuix zwangen oder verleiteten, in einen Zustand der Anspannung, bisweilen fast der Beklemmung, im allgemeinen vor oder nach, nicht während meiner Erfindungstätigkeiten, die Interpretationen oder Berichte genannt wurden. Ich bemerkte, daß ich jeden Tag mehr Skrupel verlor oder daß ich, wie Sir Peter Wheeler gesagt hatte, mein Gewissen aussetzte und es verschwimmen ließ, es unbegrenzt aussetzte; und daß ich mich

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