Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
die euch weniger fordert: auch Spanierin, diese junge Frau, oder nur halb, er hat mir mehrmals von ihr erzählt, aber es gelingt mir nie, ihren Namen zu behalten, er sagt, sie wird mit der Zeit die beste der Gruppe sein, wenn er es fertigbringt, sie lange genug zu halten, das ist eine der Schwierigkeiten, die meisten werden es leid und geben bald auf. Toby war fast so unfehlbar, wie du es wahrscheinlich bist in Zeiten geringerer Anforderungen. Na ja, ihm zufolge. Er glaubte, du würdest es mehr sein als er selbst, du könntest ihn übertreffen, sobald du nur ein Bewußtsein erlangt und dich dann wieder von ihm gelöst oder es zumindest ausgesetzt hättest, so wie wir es taten, die wir es hatten, es haben, das Bewußtsein oder das Gewissen. Prinzipiell unbegrenzt, lassen wir auch diesen relativen Widerspruch gelten für das Aussetzen der Gewissen. Aber um die Wahrheit zu sagen, ich weiß nicht, ob du es so weit bringen würdest.«
»Von was für einer Gruppe reden Sie, Peter? Sie haben sie schon mehrfach erwähnt.« Ich versuchte, die Frage zu verändern. Aber ich fühlte keine Ungeduld mehr, sie war ein Reflex gewesen, einen Augenblick lang. Und wenn er zuvor Eile gehabt hatte, dann sicher nur deshalb, weil ich so spät wach heruntergekommen war, womit er nicht gerechnet hatte, die Nicht-Einhaltung seiner zeitlichen und gedanklichen Pläne brachte ihn aus dem Konzept und ärgerte ihn. Doch jetzt, da er mich vor sich hatte, genoß er es, mich neugierig zu machen, mich hinzuhalten: Er würde seine geplante, vielleicht geträumte Vorstellung nicht dadurch ruinieren, daß er sie beschleunigte. Wie zu erwarten, antwortete er mir nicht auf die neue Frage, sondern endlich auf die alte. Natürlich nur mit halben oder höchstens mit dreiviertel Worten. Ganze, ich habe es schon gesagt, kannte er wohl nicht. Sie existierten wahrscheinlich auch nicht.
»Toby hat mir gesagt, daß er immer deine besondere Gabe bewunderte und zugleich fürchtete, die charakteristischen und sogar grundlegenden äußeren und inneren Wesenszüge deiner Freunde und Bekannten zu erfassen, die ihnen selbst oft unbekannt, verborgen waren. Oder sogar bei Leuten, die du nur flüchtig oder en passant bei einer Versammlung oder einem high table gesehen hast oder denen du ein paarmal auf den Gängen oder Treppen der Tayloriana begegnet warst, ohne ein Wort mit ihnen zu wechseln. Ich glaube, du hast ihm außerdem kurz nach deinem Weggang zu seinem Vergnügen ein paar kurze Porträts einiger unserer Kollegen geschrieben, nicht wahr?«
Das kam mir vage bekannt vor. Schon seit so langer Zeit war jede Spur davon in mir erloschen. Man vergißt sehr viel mehr das, was man schreibt, als das, was man liest, wenn es an einen gerichtet ist; das, was man sendet, als das, was man empfängt, das, was man sagt, als das, was man hört, das Unrecht, das man einem anderen antut, als die erlittene Kränkung. Und man löscht, obwohl man glaubt, daß es nicht so ist, rascher das, was mit den bereits Toten gewesen ist. Einige kleine Vignetten vielleicht, ein paar Zeilen, ja, über die Kollegen meiner Zeit in Oxford, aus der spanischen Abteilung, die Rylands, damals frisch pensionierter Professor für englische Literatur, gut kannte, wenn auch nicht so gut wie Wheeler selbst, der jahrelang und bis zu seiner Pensionierung der unmittelbare Chef der meisten gewesen war, besonders derer, die bereits damals altgedient waren. Plötzlich erfüllte mich Scham im Rückblick, ich erinnerte mich allmählich diffus: Vielleicht waren es heitere, liebevolle, aber leicht maliziöse oder ironische Porträts gewesen. Deshalb mußte ich das zunächst einmal abstreiten:
»Ich kann mich nicht daran erinnern«, sagte ich. »Nein, ich glaube nicht, daß ich ihm irgendwelche Porträts geschrieben habe. Mündlich, das kann sein. Wir haben viel über alles, über alle geredet.«
»Können Sie mir bitte die Mappe reichen, Estelle?« bat Wheeler Frau Berry, und diese holte eine hervor und reichte sie ihm sofort, als wäre es das Instrument eines Arztes, das seine Sprechstundenhilfe für ihn bereithält. Sie mußte sie die ganze Zeit auf ihrem Schoß gehalten haben, wie einen Schatz. Wheeler klemmte sie sich unter den Arm oder vielmehr unter die Achsel. Dann stand er auf und sagte zu mir: »Gehen wir ein wenig in den Garten, laufen wir über den Rasen. Bewegung tut mir gut, und Mrs. Berry wird den Tisch brauchen, wenn wir später zu Mittag essen wollen. Es ist nicht sehr kalt jetzt, aber zieh dir besser
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