Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
Vom Netzwerk:
ja‹, ›Vielleicht nein‹, ›Es ist unwahrscheinlich‹, ›Womöglich‹, ›Mag sein‹, ›Ich weiß nicht, ob ich zu weit gehe, aber …‹, ›Das sind Mutmaßungen, und doch …‹, › Perhaps ‹, › It might well be ‹, das archaische › Methinks ‹, das amerikanische › I daresay ‹, es gibt alle Nuancen in beiden Sprachen. Ja, man vermeidet auf seiner Zunge die Behauptungen und vertreibt aus seinem Kopf die Gewißheiten, denn man weiß, daß sowohl die anderen die einen als auch die einen die anderen nach sich ziehen, es herrscht fast Gleichzeitigkeit, es gibt fast keinen Unterschied, es ist geradezu exzessiv, wie sie sich gegenseitig anstecken, das Denken und das Sprechen. Das am Anfang. Aber schon bald wird man mutig: Man fühlt sich ermuntert oder getadelt durch einen Seitenblick oder eine scheinbar an niemanden gerichtete und in neutralem Ton hingeworfene Äußerung, von der man jedoch weiß, daß sie auf einen gemünzt ist, man versteht es, sie auf sich zu beziehen. Man merkt, daß das ›Ich weiß nicht‹ keinen großen Gefallen findet, daß Hemmungen nicht geschätzt werden, daß Ambivalenzen auf Enttäuschung stoßen und Rücksichten ihre Wirkung verfehlen; daß das allzu Unsichere und Vorsichtige nicht zählt und nicht aufgenommen wird, daß Zweifelnde nicht einmal vom Zweifel selbst überzeugt, die Vorbehalte fast ein Reinfall sind; daß das ›vielleicht‹ und das ›womöglich‹ zum Wohle des Unternehmens und der Gruppe geduldet werden, die ihrer großen Kühnheit zum Trotz keinen Selbstmord begehen will, aber niemals Begeisterung oder Leidenschaft oder auch nur Billigung hervorrufen, sie werden als Zaghaftigkeit oder Milde aufgefaßt. Und in dem Maße, wie man sich vorwagt und einem mehr Fragen zufliegen und mehr Fähigkeiten zugetraut werden, ist die Perspektive des Erkennbaren immer kurz davor, verlorenzugehen, und man wird eines Tages mit der Erwartung konfrontiert, daß man das Unerkennbare sieht und das nicht Verifizierbare weiß, daß man nicht mehr nur das Wahrscheinliche oder sogar nur Mögliche beantwortet, sondern das Unbekannte und Unauslotbare.
    Das auffälligste an der Sache, das gefährliche ist, daß man selbst sich im Lauf der Zeit fähig fühlt, es zu sehen und auszuloten, zu wissen und zu kennen und sich folglich damit vorzuwagen. Die Kühnheit steht nie still, sie nimmt ab oder zu, sie eskaliert oder schrumpft zusammen, sie entzieht sich oder überwältigt, und es kann sein, daß sie nach irgendeinem gewaltigen Rückschlag ganz verschwindet. Aber wenn sie da ist, bewegt sie sich, sie ist nie beständig und gibt sich nie zufrieden, sie ist alles außer gleichbleibend. Und sie neigt zunächst zum unbegrenzten Wachstum, solange man sie nicht eindämmt oder radikal und unerbittlich zügelt oder sie zwingt, einen geordneten Rückzug anzutreten. In ihrer expansiven Phase sind die Wahrnehmungen entstellt oder verblendet, Willkür zum Beispiel erscheint einem nicht mehr als solche, denn man glaubt, seine Urteile und Ansichten auf solide Kriterien zu stützen, so subjektiv sie auch sein mögen (ein kleineres Übel, da kann man nichts machen); und es kommt ein Augenblick, in dem die Fähigkeit, das Richtige zu treffen, kaum noch zählt, vor allem weil bei meiner Tätigkeit dieses Richtige selten meßbar war oder wenn es das war, dann teilte man es mir gewöhnlich nicht mit, das ist die Wahrheit. Aus meinem Verbleiben dort, aus der Nachfrage nach meinen Dienstleistungen – um es bürokratisch und lächerlich auszudrücken –, aus meiner Nicht-Entlassung schloß ich, daß meine Trefferquote gut war, aber ich fragte mich auch bisweilen, ob das nachprüfbar war, und wenn, ob jemand sich die Mühe machte, es nachzuprüfen. Ich gab meine Meinungen und Gutachten und meine Vorurteile und Urteile ab; sie wurden gelesen oder angehört; man stellte mir konkrete Fragen; ich beantwortete sie und dabei erweiterte ich oder grenzte ein, erläuterte Einzelheiten, präzisierte oder resümierte und ging zwangsläufig immer zu weit. Danach wußte ich nicht, was man mit all dem anfing, ob es Folgen hatte, ob es nützlich war und praktisch wirksam oder nur Nahrung für das Archiv, ob es jemanden faktisch begünstigte oder benachteiligte; gewöhnlich passierte nichts weiter, man informierte mich kaum im nachhinein, alles reduzierte sich – für mich zumindest – auf jenen ersten Akt, der von meinen Ausführungen und einer kurzen Befragung oder einem kurzen Dialog beherrscht wurde; und

Weitere Kostenlose Bücher