Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
nicht verkneifen: die »gute« war blond und kurzhaarig, um den Hals ein bescheidenes, einfaches, weißes Band; die »leichtsinnige« oder »unvernünftige« war kastanienbraun, trug das Haar hochgesteckt und eine Kette um den Hals (eine gefallsüchtigere Frau); die »böse«, die Spionin, hatte schwarzes, ungleich komplizierter frisiertes Haar, ihren Hals schmückte eine Art schwarzes Band mit einer grünlichen Brosche, die in der Mitte glänzte, und sie war die einzige, die Ohrringe trug (eine regelrechte Verführerin wahrscheinlich). Viele meiner weiblichen Landsleute, darunter meine Mutter, dachte ich, hätten in jenen Jahren in England womöglich eine schlechte Presse gehabt.
Auf einer anderen Zeichnung war ein Infanteriesoldat zu sehen, der geradeaus schaute: ein Mann mittleren Alters (ein Veteran), mit einer Zigarette zwischen den Lippen, der den Zeigefinger der linken Hand an die Schläfe hielt, unter den Helm, und in wörtlicher Übersetzung empfahl: ›Behalte es unter dem Hut‹, eine Wendung, die in Wirklichkeit soviel bedeutete wie ›Kein Wort darüber‹ oder ›Behalte es für dich‹ oder, vielleicht typischer und leicht veraltet, ›Laß nichts davon verlauten‹. Und oben, in roten Buchstaben, ›Vorsicht vor Spionen!‹.
»Sie waren hauptsächlich für die Truppen bestimmt, nicht? Diese Zeichnungen«, sagte ich zu Wheeler.
»O ja, aber nicht nur«, antwortete er mir mit leicht vibrierender Stimme. »Das ist das eigentlich Interessante, daß die Botschaft nicht nur für die Soldaten bestimmt war, die am meisten wußten und die größte Vorsicht und Diskretion an den Tag legen mußten, sondern für alle, auch für jeden Zivilisten. Sieh dir die hier an.« Und er holte noch ein paar mehr aus seiner Mappe, die sich in der Tat nicht an die Angehörigen des Militärs, sondern an die gesamte Bevölkerung richteten.
Einige waren Karikaturen. Eine zeigte einen Mann, der von einer öffentlichen, roten Telefonzelle aus telefoniert, wie es sie noch immer in England gibt. ›… Aber sag um Gottes willen nicht, daß ich es dir erzählt habe!‹ waren seine Worte dem Text zufolge, während an den Wänden und auf dem Dach der Zelle vierzehn oder fünfzehn kleine Hitlerfiguren ihre geklonten Gesichter reckten. Auf einer anderen sah man zwei Frauen in der Untergrundbahn sitzen, die erste sagte zur zweiten: ›Man weiß nie, wer zuhört!‹ Zwei Reihen hinter ihnen fuhren, mit sich und der Welt zufrieden, zwei uniformierte Nazigrößen, einer dünn, der andere dick und mit Orden behängt, ersterer ähnelte ebenfalls Hitler. Auf einer anderen Zeichnung, die vielleicht anhand eines Fotos entstanden war, sah man einen gewöhnlichen Mann mit Krawatte, Mantel und Mütze (vielleicht ein cockney ), der dem Betrachter zuzuzwinkern schien und mehr oder weniger sagte: ›Was ich weiß … behalte ich für mich ‹ oder ›das sage ich nicht weiter‹. Es gab auch welche, um die Kinder zu überzeugen und ihnen durch Nachahmung beizubringen, daß sie besser schweigen sollten (›Mach es wie Papa: Still!‹), oder rein typographische offizielle Bekanntmachungen ohne Bebilderung (›Tausende von Menschenleben gingen im vorherigen Krieg durch wertvolle Information verloren, die dem Feind durch unvorsichtige Gespräche enthüllt wurde. Seid auf der Hut!‹), die vermutlich die Anzeigentafeln und Pinnwände der Büros und Schulen und Pubs und Fabriken sowie die Straßen, Mauern, Wände der Züge und Autobusse, Bahnhöfe und Untergrundstationen überfluteten. Auf anderen wurde in Versform erklärt, warum eigentlich harmlose und in Friedenszeiten völlig problemlos oder sogar vorschriftsmäßig weitergegebene Informationen, wie zum Beispiel die Gründe, warum ein Zug zurückgehalten wurde oder stehenblieb oder mitmehrfacher Verspätung eintraf, der Zensur unterworfen waren: ›Der Zensor sagt, man soll nichts wissen/von unsrem Schnee und Regengüssen/das sind für Nazis wichtige Daten/die sie gebrauchen zu unsrem Schaden‹, das entsprach mehr oder weniger dem Stil der paarweise gereimten oder stümperhaften Verse (ein Zeichen von Achtung und Gemeinsinn, den Bürgern zu erklären, warum man ihnen etwas nicht erklärte). Und immer noch mehr Zeichnungen, die sich an die Angehörigen der Streitkräfte richteten, deren Unvorsichtigkeiten die größte Gefahr für alle und natürlich für sie selbst bedeuten konnten. Ein Soldat mit Helm und einem Telefon als Körper warnte: ›Halt! Überleg es dir zweimal,
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