Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
Sprache als unsichtbarer, unkontrollierbarer, unerwarteter, unberechenbarer Feind präsentiert, als der schlimmste, der mörderischste und der furchtbarste, wie eine schreckliche Waffe, die man selbst, ein jeder, aktivieren und einsetzen konnte, ohne jemals wissen zu können, wann ein Schuß losging und wann nicht und ob dieser sich am Ende in die Torpedos verwandelte, die einen unserer Panzerkreuzer Tausende Meilen entfernt auf hoher See versenken würden, oder in die Bomben einer Junkers, die mit größter Genauigkeit unsere Stadtviertel und unsere Häuser treffen oder auf die militärischen Ziele fallen würden, die man am meisten schützen und verteidigen mußte, auf die am besten getarnten, die geheimsten und lebenswichtigsten. Ich weiß nicht, ob du dir das wirklich klar machst, Jacobo: Die Leute wurden vor ihrer hauptsächlichen Kommunikationsform gewarnt; sie wurden dazu gebracht, der Tätigkeit zu mißtrauen, der sie sich seit eh und je völlig natürlich, vorbehaltslos, jederzeit und überall, nicht nur hier und damals, hingegeben haben; man entzweite uns mit dem, was uns am meisten definiert und am stärksten verbindet: sprechen, erzählen, sich ausdrücken, kommentieren, lästern, Informationen weitergeben, kritisieren, Neuigkeiten austauschen, klatschen, diffamieren, verleumden und munkeln, über Ereignisse berichten und Einfälle verraten, auf dem laufenden bleiben, sich mitteilen und natürlich auch scherzen und lügen. Das ist das Rad, das die Welt bewegt, Jacobo, mehr als alles andere; das ist der Motor des Lebens, der sich nie abnutzt und nie stehenbleibt, das ist ihr wahrer Atem. Und plötzlich wurden die Leute aufgefordert, ihn abzuschalten, diesen Motor; mit dem Atmen aufzuhören. Sie wurden aufgefordert, auf das zu verzichten, was ihnen das liebste und allernötigste ist, auf das, wofür wir leben, und das fast alle ohne Ausnahme genießen und benutzen können, die Armen und die Reichen, die Ungebildeten und die Gebildeten, die Alten und die Kinder, die Kranken und die Gesunden, die Soldaten und die Zivilisten. Wenn sie oder wir alle etwas tun, das keine strikte physiologische Notwendigkeit ist, wenn etwas uns als willensbegabten Wesen wirklich gemeinsam ist, dann das Sprechen, Jacobo. Das verhängnisvolle Sprechen. Der Fluch des Sprechens. Sprechen und sprechen ohne Unterlaß, dafür geht niemandem die Munition aus. Dabei kommt es wenig auf grammatikalische, syntaktische und lexikalische Kenntnisse an, noch weniger auf rednerische Begabung und am allerwenigsten auf Aussprache, Diktion, Betonung, Wohlklang, Rhythmus. Der klügste Mensch der Welt mag systematischer, angemessener und genauer sprechen, vielleicht mit größerem Nutzen für seine Zuhörer oder für diejenigen darunter, die ihm gleich sind oder ihm gleichen wollen. Aber er wird nicht zwangsläufig besser oder gewandter sprechen als die halb analphabetische Hausfrau, die den ganzen Tag lang nicht eine Sekunde schweigt und am Abend nur, weil der Schlaf und ihre malträtierte, mitgenommene Kehle es ihr gebieten. Der am weitesten gereiste Mensch der Welt wird zahllose unterhaltsame, wunderbare Geschichten, unzählbare Anekdoten und Abenteuer aus unglaublichen, fernen, exotischen und gefährlichen Ländern erzählen können. Aber er wird nicht zwangsläufig mehr oder geläufiger sprechen als der ungehobelte Kneipenwirt, der nie seine Theke verlassen und in seinem Leben nur die zwanzig Straßen und die beiden Plätze gesehen hat, aus denen sein abgelegenes Dorf besteht. Der schwärmerischste Dichter und der rauschhafteste Erzähler mögen aus dem Stegreif hypnotische Wortverkettungen erfinden und rezitieren können, die wie Musik klingen, so sehr, daß es ihren Zuhörern wenig bedeutet, welchen Sinn sie haben, oder besser gesagt, sie werden ihn mühelos erfassen, ohne an ihn denken zu müssen, bevor sie ihn begreifen oder von ihm ergriffen werden, es wird alles gleichzeitig geschehen und eines sein, obwohl diese Zuhörer vielleicht später, wenn die Musik zu Ende ist, nicht imstande sein werden, ihn zu wiederholen oder zusammenzufassen, vielleicht nicht einmal, weiterhin zu verstehen, was sie noch vor einem Augenblick, während sie gewiegt wurden und der Zauber anhielt, so gut verstanden, was ihnen so leicht eingegangen war in Geist und Ohren, durchlässig alle beide. Aber sie werden nicht zwangsläufig mehr oder gelöster oder gewandter sprechen als der ignorante, sich ständig wiederholende, abgestumpfte Büroangestellte, der sich für
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