Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
sie sich nur halb retten konnten, wie jedes Mitglied der Besatzung und jeder Schiffbrüchige. ›Ein paar unvorsichtige Worte können dazu führen‹, lautete die Unterschrift auf dem, was wahrscheinlich ein Plakat war oder vielleicht eine Anzeige in der illustrierten Presse; und in kleinerer Schrift hieß es: ›Viele Menschenleben gingen im vorherigen Krieg durch unvorsichtige Gespräche verloren. Seid auf der Hut! Sprecht nicht über Schiffs- oder Truppenbewegungen.‹ Der ›vorherige‹ war der Krieg von 1914, den Wheeler in direkter, kindlicher Erinnerung hatte, als er noch Rylands hieß.
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Auf einem anderen war eine mondäne Szene zu sehen: eine attraktive, in einem Sessel lehnende Frau (Halskette, Abendkleid, angesteckte Blume, lange, lackierte Fingernägel) schaut kalt und spöttisch vor sich hin, umgeben, hofiert und mit Aufmerksamkeiten bedacht von drei Offizieren mit ihren Zigaretten und ihren Gläsern in der Hand während einer Party, es ist zu vermuten, daß sie ihr von frischen Heldentaten berichten oder unmittelbar bevorstehende ankündigen, um sie zu beeindrucken, oder daß sie untereinander über ihre Taten sprechen, ohne sich darum zu bekümmern, daß die Frau sie hört. Die Unterschrift lautete: ›Halt deinen Mund‹ (oder, umgangssprachlicher und dem Original in gewissem Sinne näher: ›Pst‹), ›sie ist nicht so dumm!‹ (obwohl es hier ein Wortspiel gab, da dumb ›dumm‹ oder ›naiv‹ bedeutet, aber auch ›stumm‹; und außerdem reimte es sich). In roten Buchstaben, darunter, das Hauptmotto der Kampagne: ›Unvorsichtige Gespräche kosten Menschenleben‹.
Ein weiteres war noch expliziter und belehrender und warnte vor der möglichen unfreiwilligen und unkontrollierbaren Verkettung, der ausgesprochene Worte immer ausgesetzt sind, hier lagen der Spion oder die Spionin nicht an ihrem Anfang auf der Lauer, sondern warteten an ihrem Ende. Die Zeichnung war vierfach unterteilt, zweimal mit rotem und zweimal mit weißem Hintergrund. Das obere linke Feld zeigte einen Matrosen im Gespräch mit einer jungen blondmähnigen Frau (seine Braut, seine Schwester, vielleicht eine Freundin), der zu mißtrauen er keinen Grund hat, im Gegenteil, sie hört ihm mit uneigennützigem Interesse zu (das heißt, sie interessiert sich mehr für ihn als für das Enthüllte oder Erzählte) und betrachtet ihn mit großer Hochachtung, wenn nicht sogar Verzückung. Darunter, in Großbuchstaben, die Worte ›MAN ERZÄHLT ES‹. Das nächste Feld, das obere rechte, zeigte dieselbe blonde junge Frau im Gespräch mit einer Freundin, die ihr kastanienfarbenes Haar hochgesteckt trägt und ihr staunend zuhört, ihr Interesse wirkt nicht so uneigennützig; zumindest antizipiert sie genußvoll die Nachricht, die sie ihrerseits weitergeben kann; vielleicht ist sie nicht heimtückisch, sondern nur klatschsüchtig, eine von diesen Personen, die gern Neuigkeiten erzählen und anbringen und sich informiert zeigen und andere mit ihrem Wissen erstaunen. Darunter, in kleinen Buchstaben, ›einem Freund, kann heißen‹. Das untere linke Feld stellte die Frau mit kastanienfarbenem Haar dar, wie sie einer anderen Freundin etwas ins Ohr sagt, jetzt eine mit schwarzem, in der Mitte gescheiteltem Haar und einer Art tiefem Knoten, kalten, geschlitzten Augen und einem Ausdruck von nunmehr gänzlich eigennützigem Interesse, denn während sie zuhört, denkt sie vor allem an ihren nächsten Gesprächspartner, dem sie nicht mehr eine bloße Nachricht, sondern eine sehr wertvolle Information übermitteln wird. Darunter, ebenfalls in kleinen Buchstaben, ›man erzählt es‹. Zum Schluß präsentierte das untere rechte Feld die dritte Frau, die mit dem schwarzen Haar, wie sie – mit boshaften, halb geschlossenen Augen – einem blonden Mann mit schrägem Blick und sehr harten Gesichtszügen fast ins Ohr flüstert, zweifellos ein erbarmungsloser Nazi, dessen nächster Schritt nicht mehr darin bestehen wird, etwas zu erzählen, sondern zur Tat zu schreiten, Maßnahmen zu ergreifen, die sicher den Tod vieler zur Folge haben werden, einschließlich des schuldigen und unschuldigen Seemanns. Darunter, wieder in Großbuchstaben, ›DEM FEIND‹, und so lautete die Summe all dessen ›MAN ERZÄHLT ES einem Freund, kann heißen, man erzählt es DEM FEIND‹, so daß die hauptsächliche Botschaft die der Großbuchstaben auf rotem Hintergrund war. Angesichts der sorgsamen Abstufung der drei Frauen konnte ich mir ein leises Schmunzeln
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