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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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obwohl die meisten nicht einmal ein Bewußtsein ihres kostbaren Wissens haben. Und je unbewußter man ist, desto gefährlicher wird man. Es erscheint wie eine Übertreibung, aber in Wirklichkeit ist niemand davor sicher, allein durch Sprechen, durch unschuldiges, freies Sprechen, Verhängnisse, Katastrophen, Verbrechen, tragische Mißverständnisse und Racheakte auszulösen. Es ist immer möglich und kann sogar leicht passieren, daß einem die Zunge durchgeht , was für einen schönen Ausdruck habt ihr da im Spanischen, weitgefaßt und genau zugleich, er deckt sowohl das Absichtliche als auch das Unfreiwillige der Sache ab.« Und Wheeler sagte ihn, es liegt auf der Hand, in meiner Sprache, jemandem geht die Zunge durch, den schönen Ausdruck. »Zu jeder Zeit und in jeder Situation, davor ist niemand sicher. Und außerdem vergiß nicht: alles hat seine Zeit, um geglaubt zu werden, selbst das Unwahrscheinlichste und Nichtigste, das Unglaublichste und das Dümmste.«
    Wheeler hob erneut den Blick, als hätte er vor mir gehört, was ich sofort, aber erst nach ein paar Sekunden gehört hatte, ein Motorengeräusch in der Luft und auch ein Propellergeräusch, vielleicht hatte er sich im Krieg oder in seinen Kriegen daran gewöhnt, den geringsten Laut oder das winzigste Vibrieren in der Luft zu hören, bevor sie hörbar waren, ich nehme an, man lernt auch, die Ahnungen zu ahnen. Dann sahen wir über den Bäumen einen tief fliegenden Hubschrauber auftauchen, ein seltsamer Anblick am Himmel von Oxford, mehr noch an einem Feiertag, an einem dieser aus der Unendlichkeit verbannten Sonntage, vielleicht gab es irgendeine akademische Zeremonie in Anwesenheit des Premierministers oder eines anderen hohen Würdenträgers oder des einen oder anderen Vertreters der dichtbevölkerten monarchischen Ränge (der Herzog und die Herzogin von Kent neigen dazu, sich mit übernatürlicher Hilfe zu vermehren, erzählt man sich), und wir wußten nichts davon, Wheeler schon so pensioniert, daß die Universitätsbehörden jedes Jahr mehr vergaßen, ihn zu ihren Feierlichkeiten einzuladen. Die britischen Premiers haben traditionsgemäß eine Vorliebe für unsere Universität gehabt, ich erinnerte mich, daß wir, die Mitglieder der Kongregation, während meiner Lehrzeit der ehrbaren Mrs. Thatcher (der nachtragenden Margaret Hilda), als sie nur Frau Thatcher war und nicht Baroness oder Lady, in einer alles andere als knappen Abstimmung die Ehrendoktorwürde verweigert hatten. Sie hatte dort studiert und saß damals am Hebel der Macht, aber das nützte ihr wenig. Ich besaß vorübergehendes Stimmrecht und verband meine Stimme aufgeregt und vergnügt mit denen der ablehnenden Mehrheit. Diese Frau verkraftete die Kränkung schlecht und schien sich später mit Restriktionen und mit Gesetzen zu rächen, die nicht nur für unsere Universität nachteilig waren, aber sie war die erste Person im Rang eines Premiers, der man diesen Titel verweigerte, den man in Wirklichkeit allen oder fast allen ihrer Vorgänger ohne nennenswerten Einspruch gewährt hatte, eine Formalität, oder sagen wir gnadenhalber.
    Der Lärm der Propeller wurde einen Augenblick lang unerträglich, Peter hob sich die Hände an die Ohren und kniff zugleich heftig die Augen zusammen, als würde das Knattern – eine riesige Kinderklapper – auch sein Sehvermögen schädigen, und so konnte er nicht verhindern, daß die Zeichnungen uns durch die aufgewirbelte Luft davonflogen. Er sah es nicht einmal. Ich versuchte, so viele ich konnte mit den Händen festzuhalten, sehr wenige. Der Hubschrauber begann Kreise zu ziehen, so als wären wir der Gegenstand seiner Überwachung, vielleicht amüsierte sich der Pilot beim Anblick eines erschrockenen Alten und seines Begleiters, der hinter flüchtigen Papieren herrannte, die dem Fluß zustrebten. Ich mußte mich flach ins Gras werfen (nicht einmal, auch nicht zweimal), um so viele wie möglich zu stoppen und zu fassen zu kriegen, bevor sie ins Wasser fielen, während der Hubschrauber voll Hohn, wie ich, vielleicht irrtümlich, bei meinen Hechtsprüngen annahm, seinen Tiefflug fortsetzte. Dann entfernte er sich und verschwand in wenigen Sekunden, genau wie er gekommen war. Einige Zeichnungen schwebten noch in der Luft, vor allem die leichteste, die aus Zeitungspapier, Frasers ›Information für den Feind‹, ich fürchtete, sie könnte nicht nur naß werden, sondern noch dazu wie ein Papyrus zerfallen (es war gut sechzig Jahre alt, dieses Stück

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