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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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Geschwindigkeit das, was ist und gedauert hat, plötzlich aufhört und zunichte wird, wenn der letzte erhellte Streif erst einmal durchquert ist und der Prozeß der Verdunkelung und verschwimmenden Konturen beginnt. Es gibt kein Vertrauen mehr in der Beziehung zu der Person, mit der man Jahre ständigen Erzählens geteilt hat, diese Person erzählt einem nichts mehr und fragt oder antwortet kaum etwas, und man selbst wagt nicht, zu fragen oder zu erzählen, nach und nach verfällt man in Schweigen, und es kommt der Tag, an dem man nichts mehr sagt, man versucht, unbemerkt zu bleiben oder immateriell zu werden in der gemeinsamen Wohnung, seitdem man weiß oder daran denkt, daß sie es bald nicht mehr sein wird, und auch, wer gehen muß, man hat das Gefühl, an einem geliehenen Ort zu sein, bis man einen anderen findet, an den man fliehen kann, wie ein impertinenter Gast, der sieht und hört, was ihn nichts angeht, Kommen und Gehen ohne vorherigen Kommentar oder nachherige Erzählung, Telefongespräche, die ein Rätsel sind und die man nicht entziffert und die sich wahrscheinlich nicht von denen unterscheiden, die man kurz zuvor nicht einmal vernahm oder wahrnahm und schon gar nicht behielt, wie man sie jetzt alle behält, denn zu jener Zeit war man nicht auf der Hut oder stellte sich Fragen darüber oder glaubte, sie würden einen betreffen, oder gab sich Phantasien über ihren bedrohlichen Charakter hin. Man weiß nur zu gut, daß die jetzigen einen nicht betreffen, und doch fährt man jedesmal zusammen, wenn man hört, daß eine Nummer gewählt wird oder daß es klingelt. Aber man schweigt, man spitzt furchtsam die Ohren und schweigt, und es kommt der Augenblick, da der einzige Transmissionsriemen oder Halt die Kinder sind, denen man oft Dinge erzählt, nur damit sie, im anderen Zimmer, sie hört oder damit sie am Ende zu ihr gelangen und um sich irgendein Verdienst zu erwerben, das niemals mehr als solches wahrgenommen werden wird, wie auch die Gefühle ausgeschlossen sind, und außerdem gibt es auf der Welt kein Kind, das als Emissär vertrauenswürdig wäre. Und an dem Tag, an dem man endlich das Feld räumt, fühlt man außer Schmerz oder Verzweiflung auch ein wenig Erleichterung – oder es ist Scham –, aber diese Spur gemischter Erleichterung hält nicht einmal an, sie verschwindet sofort, wenn man begreift, daß die eigene im Grunde nicht existiert verglichen mit der, die der andere fühlt, der bleibt, der sich nicht bewegt und tief aufatmet, wenn er sieht, wie man sich entfernt und verliert. Alles ist in einem unerträglich extremen Ausmaß lächerlich und subjektiv, denn alles schließt sein Gegenteil mit ein: dieselben Personen am selben Ort lieben sich und ertragen sich nicht, was feste Gewohnheit war, wird allmählich oder plötzlich – es läuft auf das gleiche hinaus, darauf kommt es nicht an – unannehmbar und unangebracht, wer eine Wohnung eingeweiht hat, sieht den Zugang zu ihr verwehrt, die Berührung, ein Streifen, so selbstverständlich, daß es fast nicht bewußt war, wird zu Kühnheit oder Affront, und es ist, als müßte man um Erlaubnis bitten, sich selbst zu berühren, was gefiel und amüsant war, wird verabscheut und widert an und wird verflucht und ödet an, die gestern ersehnten Worte würden heute die Luft verpesten und Übelkeit erregen, man will sie auf keinen Fall hören, und die tausendmal gesagten sollen nicht mehr zählen (auslöschen, aufheben, ausstreichen, und schon vorher geschwiegen haben, das ist das Ziel der Welt); und es verhält sich auch umgekehrt: wer zuvor verspottet wurde, wird jetzt ernst genommen, wer abstieß, wird gerufen: »Komm, komm«, sagt man, »ich habe mich vorher so getäuscht.« »Nimm diesen Platz neben mir ein, ich habe zuvor nicht verstanden, dich zu sehen.« Deshalb muß man immer um Aufschub bitten: ›Töte mich morgen, laß mich heute nacht leben‹ zitierte ich für mich. Morgen möchtest du mich vielleicht lebendig haben, sei es auch nur eine halbe Stunde, und ich werde nicht da sein, um dir zu Gefallen zu sein, und dein Wunsch wird nichtig sein. Nichts ist und nichts ist etwas, dieselben Dinge und dieselben Tatsachen und dieselben Menschen sind sie und auch ihre Kehrseite, heute und gestern, morgen, später und früher. Und dazwischen gibt es nichts als Zeit, die sich bemüht, uns zu blenden, das einzige, wonach sie trachtet und was sie sucht, und so sind wir, die wir sie noch durchschreiten, nicht vertrauenswürdig, dumm und substanzlos

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