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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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zu nähren, rascher, wenn der Krieg ein ausländischer ist, vielleicht ist der unsere für viele Nicht-Spanier so literarisch und weit entfernt wie die Französische Revolution und die Napoleonischen Feldzüge oder wer weiß, wie die Belagerung von Numancia oder sogar die von Troya. Und doch wäre mein Vater fast in ihm gestorben mit der Uniform der Republik in unserer belagerten Stadt und war bei seinem Ende einem franquistischen Scheinprozeß und Gefängnis ausgesetzt, und ein Onkel von mir war in Madrid mit siebzehn Jahren von Angehörigen des anderen Lagers kaltblütig umgebracht worden – das Lager in viele zerspalten und daher voller Verleumdungen und Säuberungen –, von Milizionären ohne jede Kontrolle oder Uniform, die jeden beliebigen nachts aus dem Haus holten und erschossen, sie hatten ihn für nichts und wieder nichts getötet in dem Alter, in dem fast alles Phantasie ist und es nichts als Träumereien gibt, und seine ältere Schwester, meine Mutter, hatte seinen Leichnam in derselben belagerten Stadt gesucht, ohne ihn zu finden, nur das bürokratische, winzige Foto dieses Leichnams, ich habe es gesehen, und jetzt gehört es mir. Vielleicht war das alles auch in meinem Land dabei, Fiktion zu werden, und ich hatte es nicht gemerkt, alles wird ständig schneller, weniger dauerhaft und eher abgetan und archiviert, und unsere Vergangenheit wird immer dichter und kompakter und voller, weil man beschließt – und am Ende sogar glaubt –, daß das Gestern bereits hinfällig und das Vorgestern bloße Geschichte und das Vorjahr unvordenklich ist. (Was vor drei Monaten war, womöglich auch.) Ich dachte, der Augenblick sei gekommen, um endlich herauszufinden, was »sein Bereich« war, ich hatte mir ausreichende Verdienste erworben, wenn ich sie denn benötigte. Ich glaubte es nicht mit meinem Verstand, aber ich hatte das Gefühl, daß es so war. »Sagen Sie mir, Mr. Tupra, welches ist Ihr Gebiet, wenn ich das fragen darf? Es wird doch nicht die Geschichte meines Landes sein, nehme ich an.« Mir wurde klar, daß ich noch immer um Erlaubnis bat, um die trivialste und strafloseste Frage unserer Gesellschaften zu stellen.
    »O nein, natürlich, darauf können Sie furchtlos wetten«, antwortete er mit aufrichtigem, wirklich herzlichem Lachen, seine Zähne waren klein, aber sehr strahlend, seine langen Wimpern zitterten. Sein Gesicht wurde einem nach jeder Minute der Gewöhnung sympathischer, bei ihm würde die Objektivität nicht dauern, und der Argwohn zerstreute sich. Man spürte sofort die Großzügigkeit des gezeigten Interesses, als ginge es ihm in jedem Augenblick nur um sein Gegenüber und als verlöschten hinter ihm die Lichter der Welt und diese verwandelte sich in bloßen Hintergrund, um es zur Geltung zu bringen. Er verstand es seinerseits, die Aufmerksamkeit seiner Gesprächspartner zu fesseln, die Erwähnung von Andrés Nin hatte in meinem Fall genügt, mich nicht so sehr auf sein Wissen neugierig zu machen, als den Wunsch in mir zu wecken, mich auf Orwells In Katalonien oder auf das Handbuch von Hugh Thomas zu stürzen und die Geschichte des Verleumdeten aufzufrischen, an die ich mich kaum erinnern konnte. Und man bemerkte bei Tupra auch jene seltsame Anspannung oder aufgeschobene Heftigkeit, aber man nahm sie am Anfang als Folge seiner wachen Haltung. Er war gut gekleidet, ohne irgendeine Note zu übertreiben, diskrete Stoffe und Farben (das Tuch immer von außergewöhnlicher Qualität, feine Krawatten und nie fehlende Krawattennadel), seine Eitelkeit verriet sich nur – oder es war ein Rest früheren schlechten Geschmacks – durch die ewigen Westen unter dem Jackett, auch bei Wheelers kaltem Abendessen fehlte dieses Kleidungsstück nicht. »Nein, meine Tätigkeiten waren ebenfalls vielfältig, wie die Ihren, aber Verhandeln war seit jeher meine größte Stärke, in verschiedenen Bereichen und Zusammenhängen. Auch im Dienst meines Landes, man muß das versuchen, wenn man kann, nicht?, auch wenn der Dienst zweitrangig ist und man zuallererst auf den eigenen Nutzen bedacht ist.«
    Er hatte sich geschickt aus der Affäre gezogen, all das war sehr vage, er hatte nicht einmal gesagt, daß er in Oxford studiert hatte, obwohl Toby Rylands, sein Lehrer, Professor für Englische Literatur gewesen war. Doch das bedeutete nichts. An dieser Universität kommt es kaum darauf an, was man lernt, was zählt, ist, dagewesen zu sein und sich ihrer Methodik und ihrem Geist unterworfen zu haben, kein

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