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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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denn, du bist bereit, niederträchtiger zu sein als sie, und glaubst, daß deine Vorstellungskraft, nein, dein Fabulierungsvermögen dem ihren überlegen ist und daß der Same deines Zorns sich rascher und in die richtige Richtung ausbreiten wird. Du mußt bedenken, daß die meisten Leute dumm sind. Dumm und oberflächlich und leichtgläubig, du hast keine Ahnung, wie weit das geht, ein ewiges weißes Blatt ohne die geringste Spur, ohne Widerstand, so sehr du es auch zu wissen meinst, du kannst nicht wissen, wie weit das geht, du hast keine Kriege erlebt, ich hoffe, du wirst es nicht müssen. Der Überzeuger rechnet damit, er rechnet sogar zu sehr damit und irrt sich doch nie, er rechnet damit bis zum Exzeß und bis zum letzten Extrem, und das verleiht ihm eine fast grenzenlose Kühnheit. Aber wenn er gut ist, irrt er fast nie.« Er schwieg einen Augenblick, er wartete, daß der Rauch sich verzog, der jetzt aus seinem weißen Tortenhaar zu kommen schien, dann schaute er mich starr an, mit einer Mischung aus Neugier und Bestätigung, als sehe er mich zum ersten Mal und als erkenne er mich zugleich wieder (vielleicht als Subjekt des letzten Satzes, den er gesagt hatte) oder als vergleiche er mich mit jemandem oder mit sich selbst, oder als segne er mich gar. »Aber du hast das auch, du hast Überzeugungsgabe. Es ist besser, sich nicht mit dir anzulegen.« Er zog noch einmal kräftig an der Zigarre, betrachtete zufrieden ihre rötliche Glut und fachte sie aus reinem Vergnügen noch mehr an, um sie röter werden zu sehen. »Heute ist der Ausdruck ›in Ungnade fallen‹ nicht sehr gebräuchlich, nicht wahr? In Ungnade fallen. Es ist interessant, es ist merkwürdig, daß er ziemlich veraltet ist, wo doch das, was er besser als jeder andere bezeichnet, ständig geschieht, unaufhörlich und überall und vielleicht mehr denn je, wenn auch unauffälliger oder weniger laut als in der Vergangenheit, und oft die Vernichtung desjenigen zur Folge hat, der fällt, der schon buchstäblich ein Gefallener ist, wie soll ich sagen, er ist schon am Boden, eine Un-Person, ein gefällter Baum. Ich habe das oft erlebt, ich habe sogar einige Male daran teilgenommen, ich meine, ich habe dazu beigetragen, daß mehr als einer in Ungnade gefallen ist, noch dazu in abscheuliche Ungnade, aus der man nie wieder herauskommt. Ich habe das sogar herbeigeführt. Und entschieden. Oder geholfen, daß die Ungnade sich vollzog, die andere diktiert hatten. Daß ihr der Weg bereitet wurde.«
    »Hier, an der Universität?«
    »Nein. Na ja, doch, aber nicht nur. Auch an Fronten, wo dieser Sturz schlimmer war und ganz andere Folgen hatte, als nicht zu Abendessen eingeladen zu werden« – er sagte high tables , die ›erhöhten‹ oder festlichen Abendessen in den colleges , ich hatte seinerzeit etliche erdulden müssen – »oder zum Gegenstand von Gerede und Kritik zu werden oder unter einem gesellschaftlichen oder akademischen Vakuum zu leiden oder den Verlust des beruflichen Ansehens zu erleben. Aber darüber reden wir ebenfalls morgen, vielleicht, ein wenig, das Nötige. Oder vielleicht nicht, vielleicht reden wir nicht darüber, ich weiß nicht, wir werden sehen. Wir werden morgen sehen.«
    Ich weiß nicht, wie ich ihn anschaute, ich weiß, daß mein Blick ihm nicht gefiel. Aber das lag nicht so sehr an seinem Ausdruck – vielleicht Überraschung, Neugier, leichtes Staunen, leichter Argwohn, ich glaube, auf keinen Fall Tadel oder Zensur, ich war außerstande, ihm gegenüber diese Gefühle intuitiv zu empfinden – als daran, daß es ihn überhaupt gab. Es war, als ließe er ihn an seiner vorherigen Bestätigung oder seinem Vergleich oder seinem Wiedererkennen zweifeln, nun, da es zu spät war oder deplaziert.
    »Haben Sie Choleraerreger verbreitet?« Das war die Frage, die meinen Blick begleitete.
    Er stützte die Spitze des Stockes auf den Boden, umklammerte das Geländer, die Zigarre und den Stockgriff in derselben Hand, machte Anstalten, aufzustehen, aber tat es nicht. Er verharrte in dieser Stellung, beide Arme erhoben, als hinge er an beiden Stützen, aber seine Haltung erinnerte auch an die Positur, mit der man sich für unschuldig erklärt oder kundtut, daß man unbewaffnet sei: ›Mich kann man ruhig untersuchen.‹ Oder: ›Ich bin es nicht gewesen.‹
    »Du bist zu schlau, Jacobo, um mich auch nur im entferntesten glauben zu lassen, daß du diesen Ausdruck in einem anderen als im gebotenen metaphorischen Sinn hast auffassen können.

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