Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
Natürlich habe ich sie verbreitet.« Nach der verwickelten jakobischen Stichelei und der nachfolgenden herausfordernden Äußerung erfolgte rasch deren Abwiegelung oder Abmilderung oder ein Versuch nebulöser, partieller Erklärung, als wollte auch Wheeler nicht, daß mein Bild von ihm getrübt oder zerstört würde durch ein Mißverständnis oder eine mißliebige Metapher. Ich weiß nicht, wie er auf den Gedanken kommen konnte, ich könnte ihn für einen Schurken halten. »Das ist sehr lange her«, sagte er. »Vergiß nie, daß ich 1913 geboren bin. Vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges, stell dir vor. Kaum glaublich, nicht?, daß ich noch immer lebe. Mir selbst erscheint es unglaublich an manchen Abenden. In einem Leben wie dem meinen gibt es Zeit für zu viele Dinge. Na ja, es gibt Zeit für nichts und gleichzeitig doch: für zu viele Dinge. Mein Gedächtnis ist so prall gefüllt, daß ich es manchmal nicht ertrage. Ich würde es gern mehr verlieren, es ein wenig entleeren. Oder nein, das stimmt nicht, mir ist lieber, es versagt noch nicht. Aber ich hätte gern, daß es nicht so randvoll wäre. Als junger Mensch, du weißt das, hat man es eilig und fürchtet, nicht genug zu leben, nicht in den Genuß ausreichend vielfältiger und reicher Erfahrungen zu kommen, man ist ungeduldig und beschleunigt die Ereignisse, wenn man kann, und häuft sie an, hortet sie, das dringende Bedürfnis des jungen Menschen, Narben anzusammeln und sich eine Vergangenheit zu schmieden, dieses dringende Bedürfnis ist recht sonderbar. Niemand sollte diese Furcht haben, wir Alten sollten das den Leuten beibringen, obwohl ich nicht weiß, wie, heute hört uns niemand zu. Denn am Ende eines jeden mehr oder weniger langen Lebens, so monoton es auch gewesen sein mag, und fade und grau und ohne Umbrüche, wird es immer zu viele Erinnerungen und zu viele Widersprüche, zu viel Verzicht und Unterlassen, zu viele Veränderungen, viel Rückzug und Fahneneinholen und auch zu viele Treulosigkeiten geben, das ist sicher. Und es ist nicht einfach, all das zu ordnen, nicht einmal, um es sich selbst zu erzählen. Zu viel Anhäufung. Zu viel nebelhaftes und verdichtetes und zugleich weit verstreutes Material, zu viel für eine Erzählung, selbst für eine nur gedachte. Und ganz zu schweigen von den unendlichen Dingen, die im blinden Fleck des Auges liegen, jedes Leben ist voll von buchstäblich unsichtbaren Geschehnissen, man weiß nicht, was geschehen ist, weil man es schlicht nicht gesehen hat, es gab keine Möglichkeit, es zu sehen, ein Großteil dessen, was uns betrifft und uns bestimmt, ist verdeckt, wie soll ich sagen, es bot sich nicht dem Blick dar, es entzog sich, es gab keinen Winkel. Das Leben ist nicht erzählbar, und es ist höchst merkwürdig, daß die Menschen sämtliche Jahrhunderte, die uns bekannt sind, damit zugebracht haben, hartnäckig bemüht, zu erzählen, was sich nicht erzählen läßt, egal ob als Mythos, episches Gedicht, Chronik, Annalen, Protokolle, Legende oder Heldenepos, Bänkelsängerlied oder Volksweise, Evangelium, Heiligenlegenden, Geschichte, Biographie, Roman oder Grabrede, als Film, Bekenntnisse, Memoiren, Reportage, es ist einerlei. Es ist ein vergebliches, zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, und es fügt uns vielleicht mehr Schaden als Gutes zu. Manchmal denke ich, es wäre besser, die Gewohnheit aufzugeben und zuzulassen, daß die Dinge einfach geschehen. Und sie dann ruhen zu lassen.« Er hielt inne, als merkte er, daß er sich schon weit von seiner geplanten Unterhaltung entfernt hatte. Aber bestimmt hatte er Tupra und Beryl nicht aus dem Blick verloren, gewiß nicht, er konnte sich Exkurse von Exkursen von Exkursen erlauben und am Ende dorthin zurückkehren, wohin er wollte. Er gab sich erneut herausfordernd und schwächte die Herausforderung sogleich wieder ab: »Natürlich habe ich sie verbreitet, Choleraerreger und Malaria- und Pesterreger. Ich erinnere dich daran, daß wir hier einen langen Krieg gegen Deutschland hatten, vor sehr viel weniger Jahren als ich gelebt habe, ich war damals schon erwachsen. Und vorher bin ich auch einmal in eurem gewesen. Auch da war ich erwachsen, rechne es dir aus.«
Ich rechnete es mir einen Augenblick lang im Geist aus. Wheelers Geburtstag war am 24. Oktober, also war er nicht ganz dreiundzwanzig Jahre alt gewesen im Juli 1936, als der Krieg ausbrach, und bei seinem Ende, im April 39, fünfundzwanzig. Auch das war eine Enthüllung, er hatte mir nie etwas erzählt.
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