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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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Ich habe dieses Glück, du weißt ja, das Glück des Feiglings, es ist immer sehr viel größer als das des Mutigen oder Unerschrockenen, da können die Märchen der ganzen Welt und die Legenden erzählen, was sie wollen. In Wirklichkeit ist nichts passiert, und nicht nur das Mädchen, auch Cuesta trägt mir nichts nach. Er ist nicht einmal mißtrauisch oder enttäuscht, das wäre jetzt ein bißchen schlimm gewesen. Aber das ändert nichts daran, daß mir klar geworden ist, was ich für einen Charakter habe. Nicht, daß ich das nicht gewußt hätte, glaub das ja nicht, aber jetzt habe ich es erfahren, ich habe es am eigenen Leib erfahren, wie man sagt, und während das Mädchen und Cuesta schon sehr bald nicht mehr an diese Geschichte denken werden, wenn sie überhaupt noch daran denken, werde ich sie niemals vergessen, denn für mich sah es etliche Minuten lang so aus, als sei ein junges Mädchen vor meinen Augen gestorben und ich hätte mich mit meiner wohlverwahrten Ware davongemacht, ohne etwas für sie zu tun.« »Na, du hast doch Bescheid gesagt, bist gerannt, zumindest hast du alles getan, damit andere sich darum kümmerten«, sagte ich. Comendador gehörte nicht zu denen, die sich etwas vormachen, oder nicht viel (vielleicht macht er sich jetzt, da er in New York oder Miami oder wo auch immer eine achtbare Person geworden ist, eher etwas vor). »Ja, es hätte noch schlimmer sein können, alles ist möglich, aber du und ich, wir wissen, daß ich nichts getan habe, nicht das, was ich hätte tun sollen. Obwohl das Mädchen wohlauf ist und ihr durch meine Schuld oder meinen Egoismus nichts Schlimmes passiert ist, wird es in jedem Fall auch mein Gewissen belasten.« Und dann fügte er mit einem halben Lächeln hinzu, als wollte er das Gesagte zurücknehmen (sein halbes Lächeln in der Schule vor den Mitschülern oder den Lehrern, das Lächeln, das ihn am Ende von der größeren Drohung oder Strafe befreite, das Zweifel säte und immer zurücknahm, sowohl das, was er einen Augenblick zuvor erklärt hatte, als auch das, was er schwor, während er eine Lippe verzog und es uns zeigte): »Zum Glück hält mein Gewissen ziemlich viel aus.« Es stimmte, daß er Glück hatte, ob es nun das des Feiglings war oder nicht. Im nachhinein konnte man nicht einmal die Sache mit dem trägen Tropfen, der vor einem sehr deduktiven Karabiniere in Palermo in seiner Nase gezittert hatte, als Unglück betrachten. Er hatte eine Zeit hinter besonders scharfen Gittern verbracht, aber als Folge dieser Schneiden hatte er mit dem Kleinkram und den bodennahen Risiken aufgehört, und jetzt war er ein reicher Unternehmer, das letzte, was ich von ihm wußte, ich hörte kaum etwas von ihm, und so war es mir tatsächlich lieber, mir war lieber, daß unser Kontakt erkaltet und seltener geworden war, oder vielleicht war er beendet: Es gibt Geschwister und Cousins und Cousinen, es gibt Kindheitsfreunde und alte Lieben, mit denen man als Erwachsener nichts anfangen kann. Vielleicht bin ich so jemand für jemand anderen oder für irgendeine alte Flamme. Allerdings war ich überhaupt nicht davon überzeugt, daß ich mich an Comendadors Stelle anders als er verhalten hätte. Ich konnte es jedenfalls nicht feststellen, da ich es nicht am eigenen Leib erfahren hatte, wie man sagt. Wer konnte es wissen. Niemand weiß es, bis zum entscheidenden Moment, und selbst dann. Derselbe Mensch kann auf unterschiedliche oder gegensätzliche Weise reagieren, je nach dem Tag und der Angst und der Stimmung, je nachdem, was er verlieren kann, oder je nach der Bedeutung, die er seinem Bild oder seiner Geschichte in jeder Phase seines Lebens zumißt, je nachdem, ob er sein Verhalten später erzählen oder verschweigen wird, gleich, ob es edelmütig oder schäbig ist, gemein oder erhaben, was auch immer. Oder je nachdem, ob er erwartet, daß man ihm später eine Rechnung darüber aufmacht, daß man es erzählt, daß andere es erzählen, wenn er stirbt und es nicht tun kann. Niemand weiß etwas vom nächsten Mal, obwohl es ein vorheriges gegeben hat, kein vorangehendes Mal zwingt uns zu etwas, noch verurteilt es uns zur Schneide der Wiederholungen, und wer gestern großherzig und mutig war, kann morgen treulos und unbeständig sein, wer vor Ewigkeiten feige und ein Verräter war, kann heute zuverlässig und redlich sein, und vielleicht bedingt und zwingt uns die Zukunft mehr als die Vergangenheit, das Unbekannte mehr als das Bekannte, das nicht Erwiesene mehr als das

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