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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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Selbstverständliche, das Kommende mehr als das Geschehene, das Mögliche mehr als das bereits Eingetretene. Oder doch gleichzeitig. Auch das, was war, verschwindet niemals ganz und gar, nicht einmal der abgeriebene und gesäuberte Blutfleck und sein Rand, ein Analytiker hätte nach einiger Zeit zweifellos irgendeine mikroskopisch kleine Spur auf dem Holz gefunden, und in der Tiefe unserer Erinnerung – dieser selten besuchten Tiefe – gibt es einen Analytiker, der mit seiner Lupe oder seinem Mikroskop wartet (und deshalb ist das Vergessen immer unvollkommen). Oder schlimmer noch, bisweilen befindet sich dieser Analytiker in der Erinnerung anderer, zu der wir keinen Zugang haben (›Ob er sich wohl daran erinnert, ob er wohl unterrichtet ist?‹ fragen wir uns voll Furcht. ›Ist es ihm gegenwärtig oder hat er es vergessen? Ob er sich wohl an mich erinnert oder sieht er mich wie eine unbekannte, eine neue Person? Ob er wohl Bescheid weiß? Hat es ihm vielleicht sein Vater gesagt, hat es ihm vielleicht seine Mutter erzählt, wird er mich wiedererkennen, hat man ihm wohl davon berichtet? Oder ist ihm vielleicht unbekannt, wer ich bin, was ich bin, und weiß er von gar nichts? (Schweig, schweig und sag nichts, nicht einmal, um dich zu retten. Schweig, und rette dich so.) Ich werde es daran erkennen, wie er mich anschaut, aber vielleicht werde ich es nicht daran erkennen, weil ich mich von seinem Blick täuschen lassen will‹). Es gibt vieles, das mir gehört oder nicht, in meiner Erinnerung, da fängt es schon an. Wer wußte das, wer weiß das, niemand weiß das. Und bestimmt hatte auch Nin keine Vorstellung davon, daß er bis zum Grab widerstehen würde, als ihn seine politischen Nachbarn in der Sprache folterten, die er gelernt und der er gute Dienste geleistet hatte. Dort, genau dort, in der Nähe meiner Stadt, Madrid, in der ich nicht mehr lebe. In einem Keller oder in einer Kaserne oder einem Gefängnis, in einem Hotel oder einem Haus in Alcalá de Henares. In der russischen Kolonie, in der Cervantes geboren wurde.

U nd da war Nin in Flemings Roman, ziemlich am Anfang, ich brauchte nicht lange, um ihn zu finden, Wheeler hatte den Absatz markiert, wie er es bei anderen im Doppelten Tagebuch und in den übrigen Büchern getan hatte, ein sehr genauer und aufmerksamer und zugleich impulsiver Leser, er schrieb spöttische Interjektionen oder verächtliche Bemerkungen über den Autor an den Rand (er ließ keinen falschen Gedanken, weder Lüge noch Ignoranz, noch Dummheit durchgehen: » Silly « oder » Foolish « urteilte er bisweilen knapp und kategorisch) oder auch begeisterte, je nachdem, und Hinweise, die nur der Erinnerung dienten, und Ausrufe- oder Fragezeichen, wenn er etwas nicht glaubte oder es für unverständlich erachtete, und gelegentlich kritzelte er »schlecht« hin (der hinterhältige, inkompetente Tello-Trapp oder wer auch immer hatte etliche abbekommen) und verwies mit einem Pfeil auf etwas, das sein umtriebiger Kopf und seine anspruchsvollen mineralischen Augen verurteilt hatten, oder »ausgezeichnet«, wenn ein Satz ihm ins Schwarze zu treffen schien oder ihn bewegte, » Quite moving « hatte ich einmal gelesen, ich glaube, in Orwells In Katalonien . » Quite right « notierte er auch bisweilen zustimmend, ich hatte es bei Benet gesehen, und » Quite true « oft bei Thomas, den er persönlich gekannt haben mußte, da dieser in der Nähe von Oxford, an der Universität von Reading, unterrichtet hatte, ein Ort, der berühmt ist für sein altes Gefängnis und für die Ballade, die der Gefangene C.3.3. dort geschrieben hat, nicht gerade ein Pseudonym.
    Der Absatz befand sich am Ende des siebten Kapitels mit der Überschrift »The Wizard of Ice«, das heißt »Der Zauberer aus Eis«, ein unübersetzbares Wortspiel in Anspielung auf den von Oz. »Natürlich besaß Rosa Klebb«, las ich auf englisch in diesem Absatz, »einen starken Überlebenswillen, oder sie wäre nicht eine der mächtigsten Frauen im Staat und zweifellos die am meisten gefürchtete geworden. Ihr Aufstieg, erinnerte sich Kronsteen, hatte mit dem spanischen Bürgerkrieg begonnen. In dieser Zeit war sie als Doppelagentin innerhalb der POUM – das heißt, sowohl im Dienst des Moskauer OGPU als auch des Kommunistischen Geheimdienstes in Spanien – die rechte Hand und, wie man sagte, eine Art Geliebte ihres Anführers, des berühmten Andreas Nin, gewesen. Sie hatte von 1935 bis 1937 mit ihm zusammengearbeitet. Er wurde später auf

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