Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
englisch sprach und country sagte, was fast immer »Land« bedeutet und manchmal ganz harmlos nur Land im Gegensatz zur Stadt. Vom Oberstock aus hörte man noch deutlicher das Rauschen des Flusses, ruhig und geduldig oder lustlos und matt, das aufsteigende Geräusch, oder es lag am Flügel des Hauses, in dem ich mich jetzt befand, endlich im Bett. Ich bemerkte schon ein wenig Helligkeit am Himmel oder so glaubte ich, sie war kaum wahrnehmbar, ich konnte durchaus an meinem Auge zweifeln. Aber diese Wahrnehmung, selbst in tiefer Nacht und zur Stunde, die die Lateiner das conticinium nannten, ein Wort, das meine Sprache längst vergessen hat, rührte von der merkwürdigen englischen Bereitschaft, ohne Jalousien zu schlafen, an die ich mich nie gewöhnen konnte, es gibt sie nicht, sie haben keine, auch nicht immer Vorhänge oder Fensterläden an ihrer Statt, sondern oft nur durchsichtige Gardinen, die weder schützen noch verbergen noch beruhigen, so als müßten sie ein Auge offen halten, wenn sie einschlafen, die Bewohner dieser großen Insel, auf der ich mehr Zeit verbracht habe, als ratsam ist und als vorgesehen, wenn ich das Vorher und das Nachher, das Heute und das Vorgestern zusammenzähle. »Und Lügen sind Lügen«, eine weitere bedeutungslose Tautologie, obwohl hier das Wort nicht hohl ist noch der Begriff rudimentär, noch fanatisch seine Anwendung, sondern universell, unangestrengt, gewohnheitsmäßig, konstant, sogar mechanisch und unüberlegt bisweilen, je mehr, um so schwieriger seine Bestimmung, seine Unterscheidung und um so größer dann seine Wahrheit, die der Unwahrheiten, und um so größer unsere Wehrlosigkeit. »Lügen sind Lügen, aber alles hat seine Zeit, um geglaubt zu werden.« Als glaubte ich jetzt dem Fluß, während ich sein Rauschen hörte, und, weil ich ihn zu verstehen meinte, wiederholte mit ihm, während ich einschlief mit dem offenen Auge dieses Landes, das für einige Vaterland ist, sanft und matt mit dem offenen Auge meiner Ansteckung und der nichtexistierenden Helligkeit: »Ich bin der Fluß, ich bin der Fluß und daher ein Verbindungsfaden zwischen Lebenden und Toten, genau wie die Erzählungen, die nachts zu uns sprechen, ich gleiche den Zeiten und auch den Ereignissen, ich bin der Fluß. Aber der Fluß ist der Fluß. Und weiter nichts.«
II LANZE
M an weiß nie genau, ob man jemandes Vertrauen gewinnt, und weniger noch, wann man es verliert. Ich meine, das von jemandem, der nie darüber sprechen würde, der weder Freundschaftsbeteuerungen noch Vorwürfe äußern und auch niemals diese Worte benutzen würde – Mißtrauen, Freundschaft, Feindschaft, Vertrauen – oder nur als spöttisches Element seiner natürlichen Darstellungen und Dialoge, als Echo und Zitat von Reden und Szenen vergangener Zeiten, die uns immer naiv erscheinen, auch das Heute wird es morgen sein für wen auch immer, der da kommen mag, nur wer das begreift, erspart sich die Beschleunigungen des Pulses und das Anhalten des Atems und mutet seinen Adern so keinen Schrecken zu. Aber es ist schwierig, das zu akzeptieren oder zu sehen, und so verewigen die Herzen ihre Sprünge und die Münder ihre vollen Töne und ihren Dunsthauch und ihr Zittern die Beine, wie konnte ich nur – sagen die Menschen zu sich selbst –, wie habe ich nur so dumm, so schlau sein können, so mißtrauisch, so gutgläubig, so einfältig, so skeptisch, der Vertrauensvolle ist nicht zwangsläufig naiver als der Argwöhnische, der Zyniker ist es nicht weniger als einer, der sich bedingungslos ausliefert, der sich in unsere Hände begeben hat und uns schon die Kehle darbietet für den letzten oder ersten Schnitt oder die Brust, damit wir sie mit unserer spitzesten Lanze durchbohren. Selbst die Mißtrauischsten und Schlauesten und Abgebrühtesten wirken ein wenig naiv, wenn sie erst einmal aus der Zeit vertrieben, erst einmal vergangen sind und ihre Geschichte bekannt ist (sie geht von Mund zu Mund und erlangt so ihre Gestalt). Vielleicht ist es das, das Ende und das Wissen darum, wissen, was geschehen ist und worauf die Dinge hinausliefen, wer überrumpelt wurde und wer die Täuschung inszenierte, wer gut oder schlecht wegkam oder im Patt endete und wer nichts aufs Spiel setzte und daher kein Risiko einging, wer – trotzdem – verlor, weil ihn die Strömung des breiten, stärkeren Flusses mit sich riß, der immer voller Falschspieler ist, so viele, daß sie am Ende stets sämtliche Passagiere verstricken, selbst die passivsten,
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