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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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Sie sagte es ihnen, denn sie hatte ein sehr lebhaftes Temperament, und daraufhin verlangten sie von ihr, sie zu ihm nach Hause zu begleiten, um herauszufinden, ob es der Wahrheit entsprach. Zu Hause war die Mutter, Margarita kannte sie (na ja, wir kannten sie alle, es war ja eine lange, enge Freundschaft gewesen) und nutzte die Gelegenheit, sie davon zu überzeugen, sie solle ihren Sohn zur Vernunft bringen und veranlassen, daß er diese ungerechte und unbegreifliche Anklage zurückzog. Die Mutter, die ihr große Zuneigung entgegenbrachte, hörte ihr mit einer Mischung aus Entgeisterung und Unbehagen zu. Doch am Ende war der mütterliche Glaube stärker als jede andere Erwägung, und um den Sohn zu entschuldigen, fiel ihr nichts anderes ein, als zu sagen: ›Das Vaterland ist das Vaterland.‹ Worauf Margarita ihr antwortete: ›Ja, und Lügen sind Lügen.‹«
    Mein Vater war abermals verstummt, doch dieses Mal schaute er mich nicht an, sondern richtete den Blick auf die Lehne seines Sessels. Plötzlich sah ich ihn müde oder vielleicht abgelenkt von etwas, das nichts mit dem Gespräch zu tun hatte. Ich wußte nicht, ob er sich ein wenig in seinen Erinnerungen verirrt hatte und nichts mehr hinzufügen wollte oder ob er die letzte Episode noch mit der vorangehenden verknüpfen und mir eine Schlußfolgerung anbieten wollte. Ich dachte, daß ich das nun nicht mehr herausfinden würde, denn meine Schwester war gekommen (vielleicht hatte mein Vater den Fahrstuhl gehört) und hatte das Wohnzimmer betreten, gerade rechtzeitig, um nur den zitierten Satz Margaritas zu hören, nehme ich an, denn als erstes fragte sie uns freundlich und mit gespieltem Vorwurf:
    »Was ist denn das, worüber streitet ihr euch?«
    Und ich hatte geantwortet:
    »Nein, wir sprechen über die Vergangenheit.«
    »Von welcher Vergangenheit? War ich schon da?«
    Meinen Vater erfreute besonders meine Schwester, obwohl sie unserer Mutter weniger ähnlich war als ich. Oder so stimmt es nicht ganz: sie glich ihr mehr durch ihre Weiblichkeit, aber weniger in den Gesichtszügen, die ich in meinem männlichen Gesicht mit beunruhigender Treue wiederholte. Er hatte ihr mit einem Lächeln geantwortet, in dem Ironie und Heiterkeit wie immer in harmonischer Weise miteinander verschmolzen:
    »Nein, du warst noch nicht da, nicht einmal als Embryo eines Entwurfs einer zufälligen Möglichkeit.« Und dann hatte er abschließend gesagt, an mich gewandt: »Lügen sind Lügen, du siehst es. In Wirklichkeit gibt es nichts weiter zu sagen oder noch mehr Zeit zu verlieren mit diesen Dingen.«
    »Wenn man sie erst einmal überstanden hat, natürlich. Mehr oder weniger gut überstanden hat, versteht sich«, sagte ich.
    »Wenn man sie erst einmal überstanden hat, das ist klar. Gut oder weniger gut. Aber klar ist: Wenn ich sie nicht überstanden hätte, dann würden wir jetzt nicht miteinander sprechen, du und ich, und diese junge Dame schon gar nicht.«
    »Wie, redet ihr über irgendwas hoch Geheimes?«
    Das hatte meine Schwester damals gesagt, ich erinnerte mich gut, und diese Erinnerungen kamen mir, während ich mich endlich in das bekannte, von Frau Berry vor vielen Stunden gerichtete Bett legte, nachdem ich auch das gewidmete Exemplar von Liebesgrüße aus Moskau wieder an seinen Platz im Nebenzimmer gestellt hatte, ich glaubte, fast alles in Ordnung gebracht zu haben, sogar einen merkwürdigen Blutfleck hatte ich gereinigt, den ich weder gemacht noch verursacht hatte und der mir jetzt, in meiner Trunkenheit und Müdigkeit und wie ich vorhergesehen hatte, bevor ich ihn ganz gelöscht und seinen Rand oder sein letztes Ende getilgt hatte, irreal und als Produkt meiner Phantasie zu erscheinen begann. Oder meiner Lektüren womöglich. Ohne mir dessen bewußt zu sein, hatte ich viel über die blutigen Tage meines Landes gelesen. Blut Nins, Blut meines Onkels, der es nicht war, Blut so vieler ohne Namen oder derer, die gezwungen gewesen waren, ihn wegzulassen und diese Erde nicht mehr zu bewohnen. Und Blut meines Vaters, auf das man es abgesehen und das zu vergießen man nicht vermocht hatte (Blut meines Blutes, das nicht hervorquoll und mich nicht bespritzte). »Das Vaterland ist das Vaterland«, arme, gefangene Mutter, die des Verräters. Unentwirrbarer Satz, bedeutungslos wie jede Tautologie, hohl das Wort, rudimentär der Begriff, fanatisch seine Anwendung. Wer es benutzt hat oder benutzen wird, dem ist nie zu trauen, aber wie konnte man wissen, ob der es benutzte, der

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