Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
nichts, glaube ich, keine Loyalität, aber auch keinen Verrat, und wenn er dem einen oder dem anderen begegnete, schien er nicht überrascht zu sein oder mehr Maßnahmen zu ergreifen als die empfehlenswerten praktischer Natur. Und er erwartete keine Wertschätzung noch Zuneigung, aber auch kein Übelwollen und keinen Haß, obwohl er sehr wohl wußte, daß die Erde mit alldem verpestet ist, und daß die Menschen oft weder das eine noch das andere vermeiden können und außerdem es gar nicht wollen, denn sie sind Lunte und Nahrung ihrer Verbrennung, auch ihr Grund und ihr Funke. Und daß sie dafür weder einen Beweggrund noch ein Ziel benötigen, weder einen Zweck noch eine Ursache, weder Dankbarkeit noch Kränkung oder nicht immer, oder, wie Wheeler meinte, der deutlicher war, »sie tragen ihre Möglichkeiten im Blut, und es ist nur eine Frage der Zeit, der Versuchungen und der Umstände, die sie schließlich zur Entfaltung bringen«.
Ich habe also nie gewußt, ob ich jemals Tupras Vertrauen gewonnen oder ob und wann ich es verloren habe, es gab möglicherweise nicht den einen und anderen Moment für diese beiden geistigen Phasen oder Regungen oder man hätte ihnen keinen Namen geben können, nicht diese Namen, Gewinn und Verlust. Er sprach nicht darüber, in Wirklichkeit sprach er über fast nichts mit Klarheit, und wenn nicht die einleitenden Erklärungen Wheelers an jenem Sonntag in Oxford gewesen wären, hätte ich unter Umständen niemals etwas Genaues oder Ungenaues über meine Aufgaben erfahren und ihren Sinn oder Zweck nicht einmal erraten. Natürlich habe ich nie alles gewußt oder verstanden: was man mit meinen Gutachten oder Eindrücken oder Berichten tat, für wen sie in letzter Instanz bestimmt waren oder wozu genau sie dienten, welche Folgen sie nach sich zogen, ob sie überhaupt welche nach sich zogen oder vielmehr zu dieser Art Aufgaben und Tätigkeiten gehörten, die in manchen Organisationen und Institutionen durchgeführt werden, weil sie eine lange Tradition haben, ohne daß jemand sich erinnern kann, warum sie begonnen wurden, oder sich fragt, warum man an ihnen festhält. Bisweilen dachte ich, daß sie nur archiviert wurden, für alle Fälle. Was für ein seltsamer Ausdruck, und doch rechtfertigt er alles: für alle Fälle. Selbst für den absurdesten. Ich glaube, daß es heute nicht mehr so ist, aber früher, wenn man in die Vereinigten Staaten reiste, lautete eine Frage, die man beim Eintritt jedem Reisenden stellte, ob er die Absicht habe, einen Anschlag auf das Leben des Präsidenten dieses Landes zu verüben. Wie man sich denken kann, hat niemand sie jemals mit ja beantwortet – es war eine Erklärung unter Eid –, es sei denn, um einen Scherz zu machen, der an dieser mürrischen Grenze gewöhnlich teuer zu stehen kam, schon gar nicht der hypothetische Mörder oder Schakal, der mit keiner anderen Absicht oder Mission als dieser angereist wäre. Der Grund für die absurde Frage war scheinbar, daß die Hauptanklage um die des Meineids erweitert werden konnte, falls ein Ausländer auf den Gedanken kommen sollte, ein Attentat auf Eisenhower oder Kennedy oder Lyndon Johnson oder Nixon zu verüben; das heißt, die Frage wurde in böser Absicht gestellt und für alle Fälle. Allerdings habe ich nie begriffen, zu welchem Zweck oder Vorteil dieser zusätzliche strafverschärfende Umstand gegen jemanden ins Feld geführt wird, der angeklagt ist, die höchstrangige Person dieser Nation umgebracht oder dies versucht zu haben, was an sich schon ein an Schwere kaum zu überbietendes Verbrechen ist, wie man meinen sollte. Doch so funktionieren die Dinge, die für alle Fälle da sind, nehme ich an. Man sieht die unglaubwürdigsten und unwahrscheinlichsten Ereignisse voraus und richtet sein Handeln nach ihnen aus, obwohl sie fast nie eintreten, fast immer vergeblich. Es werden fruchtlose oder überflüssige Aufgaben durchgeführt, die mit Sicherheit niemals nützen oder genutzt werden, man arbeitet mit Eventualitäten und Vorstellungen und Hypothesen in bezug auf das Nichts und das Inexistente, auf das, was nicht geschieht und auch vorher nicht geschehen ist. Und das heißt, mit dem Zufall zu rechnen.
Am Anfang wurde ich dreimal innerhalb der kurzen Frist von zehn Tagen gerufen, um als Dolmetscher zu fungieren, obwohl sie zweifellos über andere Kräfte verfügten, die sie stundenweise anstellen konnten, und über eine, die halb zur Belegschaft gehörte, wie die junge Pérez Nuix, die ich etwas später
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