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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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die gleichgültigen, die hochmütigen und die ablehnenden, die feindseligen und die widerspenstigen; und auch die Uferbewohner. Es scheint nicht möglich zu sein, sich herauszuhalten, am Rand, sich zu Hause einzuschließen und nichts zu wissen und nichts wissen zu wollen – nicht einmal nicht wollen zu wollen, es nützt wenig –, nicht den Briefkasten zu öffnen und nie den Telefonhörer abzunehmen, nicht den Riegel zurückzuschieben, so heftig auch geklopft wird und es aussieht, als wollte man uns die Tür eintreten, es scheint nicht möglich, so zu tun, als sei niemand da oder als sei derjenige, der einst da war, tot und höre nicht, willentlich und wahlweise unsichtbar zu sein, nicht möglich ist, zu schweigen und ewig den Atem anzuhalten, während man lebt, auch dann nicht ganz, wenn man glaubte, die Erde nicht mehr zu bewohnen und selbst den eigenen Namen wegzulassen. Das geschieht nicht so leicht, es ist nicht so leicht, ihn auszulöschen und sich selbst auszulöschen und daß keine Spur bleibt, nicht einmal die letzte Krümmung oder das letzte Ende des Randes, es ist nicht einfach, nur wie der Blutfleck zu sein, der abgewischt und abgerieben und beseitigt wird und dann … dann kann man zu zweifeln beginnen, ob er jemals existiert hat. Und in jeder Spur läßt sich stets der Schatten einer Geschichte ausfindig machen, nicht einer vollständigen vielleicht oder sicher einer unvollständigen, voller Lücken, gespenstisch, hieroglyphisch, abgestorben oder fragmentarisch wie Bruchstücke von Grabsteinen oder wie zerfallende Bogenfelder mit bröckelnden Inschriften, und die Form ihres Endes kann einem sogar völlig unbekannt sein, wie im Fall von Nin oder meinem Onkel Alfonso und seiner jungen Freundin mit einem Genickschuß und für immer ohne Namen und im Fall so vieler anderer, von denen ich nicht weiß und die niemand zählt. Aber eines ist die Form, und etwas anderes das Ende selbst, das man immer kennt: so wie eines die Zeit ist und etwas anderes ihr Inhalt, der niemals repetitiv, der unendlich variabel ist, während die Zeit homogen ist und sich nicht verändert. Und es ist dieses bekannte Ende, das uns erlaubt, alle als naiv und unbedarft zu bezeichnen, die Klugen und die Dummen, die Offenen und die Scheuen und Spröden, die Unvorsichtigen und die Umsichtigen, die Verschwörer und Betrüger, die Opfer und die Henker und die Entflohenen, die Harmlosen und die Schädlichen, wir tun es aus der falschen Überlegenheit derer – die Zeit wird ihr den Garaus machen, die Zeit wird es tun, die Zeit wird ihr abhelfen –, die nicht an ihr Ende gelangt sind und sich noch immer halbblind vorantasten oder leichtfüßig mit Schild und Lanze marschieren oder schon müde und langsam mit dem zerbeulten Schild und der stumpfen, unscharfen Lanze, und dabei gewahren wir kaum, daß wir bald bei ihnen sein werden, bei den Vertriebenen oder denen, die schon vergangen sind, und dann … dann werden unsere so mitfühlenden und scharfsinnigen Urteile ihrerseits als unbedarft und naiv bezeichnet werden, warum hat sie das getan, wird man von dir sagen, wozu soviel Unruhe und die Beschleunigung ihres Pulses, wozu diese Bewegung und dieser Sprung; und von mir wird man sagen: Warum redete er oder schwieg er und bewahrte so viele Abwesenheiten, wozu dieses Gefühl von Schwindel, so zahlreich die Zweifel und so eine Qual, wozu tat er diese und so viele andere Schritte. Und von uns beiden wird man sagen: Warum gingen sie aufeinander los und wozu diese ganze Anstrengung, warum führten sie Krieg, statt zu schauen und ruhig zu verharren, warum verstanden sie es nicht, sich zu sehen oder sich weiter zu sehen, und wozu soviel Traum und dieser Stich, mein Schmerz, mein Wort, dein Fieber und so zahlreich die Zweifel und so eine Qual.

U nd doch ist es so und wird immer so sein, das sagte Tupra mir einmal bei irgendeiner Gelegenheit und sagte mir klar und deutlich Wheeler am nächsten Tag während unseres Mittagessens. Und wenn Tupra es nicht mit der gleichen Deutlichkeit sagte, dann sicher deshalb, weil er nie darüber sprechen noch Wörter wie Mißtrauen, Freundschaft, Feindschaft, Vertrauen benutzen würde oder nicht im Ernst, nicht in bezug auf sich selbst, als könnte ihn keines davon angehen oder betreffen oder Platz finden in seinen Erfahrungen. »Das ist der Stil der Welt«, sagte er bisweilen, als wäre das wirklich alles, was man darüber sagen konnte, und alles übrige wäre Zierat und vielleicht unnötige Qual. Er erwartete

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