Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)
Übertreibung unterstellen, denn wer es erfahren hat, neigt dazu, es als Tugend oder Verdienst, als edles Opfer darzustellen, wo doch manchmal nichts davon hineinspielt und es einfach nur Pech ist. Beide erzählten ostentativ und ohne jede Unsicherheit. Ich weiß nicht, ja, angeberisch. Aber für mich war es, als würden sie sich beschuldigen, noch dazu, ohne dazu gezwungen zu sein, der Schriftsteller der Falange und die Frau in der Straßenbahn. Oder so registrierten es meine Ohren, die sich nicht amüsierten und die erzählten Grausamkeiten nicht bewunderten, sondern entsetzt und abgestoßen waren; und mein Verstand verurteilte sie, passiv.« (›Mit stummer Zunge‹, dachte ich.) »Das gibt dir eine Vorstellung davon, wie die Gewalt von vielen erlebt wurde; wie die oberflächlichsten und einfachsten Leute – nicht unbedingt die primitivsten und ungebildetsten – sich an sie gewöhnen und dann keine Grenzen mehr sehen oder sich keine mehr setzen; und es gibt dir eine Vorstellung davon, wieviel Gewalt es gab. So allgegenwärtig und so selbstverständlich, daß diejenigen, die sie am brutalsten und willkürlichsten, mit der größten Sinnlosigkeit und dem größten blinden Haß ausübten, in aller Ruhe öffentlich mit ihr angeben konnten. Sag du mir, was für eine Notwendigkeit bestand, einem Säugling das Gehirn zu zerquetschen; was für eine Notwendigkeit, einem Verurteilten Banderillas und Piken einzurammen und ihn danach zu verstümmeln. Aber wir, wir anderen, die es auch gab, haben uns nie daran gewöhnt, man gewöhnt sich nicht daran, wenn man die Sichtweise nicht verliert, wenn man sich nicht der Trägheit des ›Ist doch egal, wenn man schon mal dabei ist …‹, überläßt, wie dieser Kerl zu dem Schriftsteller gesagt hatte, als er ihn nach dem Schwanz und dem anderen Ohr fragte. Wenn einem das Konkrete nicht abstrakt erscheint, wie es heute so vielen passiert, angefangen bei den Terroristen und dann kommen gleich die Regierenden: sie erfassen nicht das Konkrete an dem, was sie in Gang setzen, und sie wollen es natürlich auch nicht. Ich weiß nicht. Die meisten Menschen unserer Gesellschaften haben zu viel Gewalt auf den Bildschirmen gesehen, fiktive oder reale. Und sie täuschen sich, sie halten sie für ein geringeres Übel, für nicht weiter bedeutsam. Aber keine ist wahr dort, auf dem flachen Bild, so schrecklich es auch ist, was einem gezeigt wird. Nicht einmal in den Nachrichten. ›Ja, wie furchtbar, das ist wirklich geschehen‹, denkt man, ›aber nicht hier, nicht in meinem Zimmer.‹ Wenn es in unseren Wohnzimmern geschähe, wie anders wäre es: es wahrzunehmen, einzuatmen, zu riechen, immer gibt es einen Geruch, es riecht immer. Was für ein Entsetzen und was für eine Panik. Es wäre unerträglich für die Menschen, die Angst würde ihnen auf den Leib rücken, die eigene oder die fremde, die Wirkung und die Heftigkeit sind ähnlich, und außerdem gibt es nichts Ansteckenderes. Die Leute würden fliehen, um sich in Sicherheit zu bringen. Schau. Es genügt, wenn jemand in einer Kneipe einem anderen einen heftigen Stoß versetzt, oder auf der Straße, in der Metro, wenn zwei wütende Autofahrer aufeinander losgehen oder sich in die Haare geraten, und schon zittern die Leute in der Nähe unter dem Eindruck und im Gefühl der Ungewißheit, schon verkrampfen sie sich, und ihnen fährt ein Schrecken in die Glieder, der oft unkontrollierbar ist, körperlich und geistig, den meisten ergeht es so. Ganz zu schweigen davon, wenn es zu einem Tumult kommt. Und wenn du mit deiner gesammelten Wut einen Fausthieb versetzt, dann wirst du wahrscheinlich ziemlich großen Schaden anrichten, aber dann wird auch deine Hand kaputt und ein paar Tage lang entzündet sein. Durch einen einzigen Fausthieb. Das ist kein Scherz.« (›Genau‹, dachte ich, aber ich sagte es ihm nicht, damit er sich keine Sorgen machte. ›Mir ist das einmal passiert, und danach konnte ich sie kaum bewegen.‹) »Wer in einer Phase seines Lebens tagtäglich Gewalt erlebt hat, wird niemals mit ihr spielen oder sie auf die leichte Schulter nehmen. Er wird sie rationieren, nicht mit Vorsicht, mit äußerster Sorgfalt, sondern mit Knausrigkeit, mit ungeheurem Geiz. Er wird sie sich nicht erlauben, wenn er sie sich ersparen kann, und das ist fast immer möglich. Obwohl er sie auch besser ertragen wird, wenn sie zurückkehrt.« Dann öffnete er wieder die hellen Augen, mein Vater, und ich sah sie erneut ungetrübt, sie waren traurig geworden
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