Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)
mit den Erinnerungen. »Außer in der Fiktion, das ist etwas anderes, obwohl man das besser wissen sollte, als es gewöhnlich der Fall ist. Die Übertreibung ist sogar amüsant, in den Filmen ist es, als würde man akrobatische Kunststücke, Feuerwerke betrachten, ich finde es sogar erheiternd, diese umherfliegenden Körper, diese Blutspritzer, man sieht so deutlich, daß sie Sprungfedern haben und Beutel mit Flüssigkeit, die sie aufstechen und die platzen. Die wirklich durch Kugeln sterben, springen nicht, sie sacken zusammen und bleiben liegen. Diese Gewalt ist tatsächlich harmlos oder sollte es sein, wenn die allgemeine Urteilskraft der Leute nicht so nachgelassen hätte. Für jemanden, der so alt ist wie ich, ist es erstaunlich, wie dumm die Welt geworden ist. Unerklärlich. Was für eine Epoche des Niedergangs, ihr könnt euch das nicht vorstellen. Nicht nur geistig, sondern schlicht in ihrem Unterscheidungsvermögen. Nun ja. All das unterscheidet sich kaum von den Prügeln im Quijote oder denen bei Tom und Jerry, die ihr als Kinder so gemocht habt, man weiß im Grunde, daß niemand dabei wirklich übel zugerichtet wird, daß alle sich am Ende unversehrt erheben und in aller Freundschaft zusammen zu Abend essen. Bah. Man darf auch nicht puritanisch werden oder zimperlich, wie die Leute, die die klassischen Märchen auf Zuckergebäck reduzieren. Was dagegen die reale Gewalt betrifft, was sie betrifft … Da dürfte es nicht die geringste Entgleisung geben. Aber wie haben sich die Dinge und die Einstellungen verändert: Als man Hitler den Krieg erklärte, und vielleicht gab es keine Situation, in der ein Krieg notwendiger und gerechtfertigter gewesen wäre, schrieb kein Geringerer als Churchill dazu, die bloße Tatsache, daß man so weit gekommen und so gescheitert sei, mache die Verantwortlichen bei aller Ehrbarkeit ihrer Beweggründe zu Schuldigen vor der Geschichte. Er bezog sich auf die Regierung seines Landes und auf die Frankreichs, verstehst du, und im weiteren Sinne auf sich selbst, obwohl er es gern gesehen hätte, wenn diese Schuld und dieses Scheitern sie früher ereilt hätten, als die Lage nicht so ungünstig für sie war und der mögliche Krieg nicht so blutig und folgenschwer gewesen wäre. ›In dieser bitteren Geschichte von Irrtümern seitens fähiger und wohlmeinender Personen‹, so sagte er. Und jetzt, du siehst ja, die gleichen Leute, die sich über die wilden Stürze von Tom und Jerry und deren Nachfahren empören, entfesseln unnötige, eigennützige Kriege ohne jeden ehrbaren Grund und umgehen andere Mittel, wenn sie sie nicht gar torpedieren. Und im Unterschied zu Churchill schämen sie sich ihrer nicht einmal. Und beklagen sie nicht einmal. Und sie entschuldigen sich natürlich nicht, das gibt es heute nicht in der Welt … In unserem Land haben schon die Franquisten diese Schule geschaffen. Kein einziger hat sich jemals entschuldigt, und auch sie haben einen unnötigen Krieg entfesselt. Den schlimmstmöglichen. Allerdings unter der sofortigen Mitwirkung vieler ihrer Kontrahenten … Was für eine Übertreibung, das alles …« Jetzt bemerkte ich, daß mein Vater gar nicht so sehr zu mir sprach, sondern eher laut dachte, und das waren sicher Gedanken, die er seit 1936 hatte und vielleicht täglich, in der gleichen oder ähnlichen Weise wie kein Tag oder keine Nacht vergeht, ohne daß irgendwann der Gedanke oder das Bild der uns nahen Toten erscheint, soviel Zeit auch vergangen sein mag, seitdem wir uns von ihnen verabschiedet haben oder sie sich von uns: »Lebt wohl, ihr Scherze! Lebt wohl, ihr Späße! Lebt wohl, ihr heiteren Freunde, denn ich sterbe und hoffe dabei, euch bald zufrieden im Jenseits wiederzusehen.« Und bei dem Gedanken, der ihm gleich darauf kam, benutzte er ein Wort, das ich später auch von Wheeler hörte, als er von den Kriegen sprach, obwohl dieser es auf englisch gesagt hatte, es war »waste« , wenn ich mich nicht irre. »Und was für eine unglaubliche Verschwendung … Ich weiß nicht. Man erinnert sich und man glaubt es nicht. Manchmal kommt es mir unglaublich vor, daß ich das alles erlebt habe. Man sieht vor allem nicht den Grund, nach all den Jahren fällt es noch schwerer, ihn zu sehen. Nichts Gravierendes erscheint jemals so gravierend, nach Ablauf der Zeit. Schon gar nicht, um einen Krieg anzuzetteln, sie erweisen sich immer als unverhältnismäßig, wenn man sie rückblickend betrachtet … Oder um einander zu töten.« (Und dann werden unsere so
Weitere Kostenlose Bücher