Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)
Agent einer Künstlerin gewesen war und von sich selbst und einem einstigen gehorsamen Mündel sprach. Aber das schloß ich sogleich aus, er schien mir nicht der Typ Mann zu sein, der beschützend oder wachsam oder wirklich dominant ist, ich meine, der feste Verantwortungen eingeht, und all diese Haltungen setzen sie voraus. ›Er wird dieses Drama, dieses Schema erlebt haben‹, dachte ich, ›wenn auch vielleicht nur zweimal: in Bethnal Green und in Kairo.‹ Ich ahnte oder wußte (ahnte zuerst und wußte dann), daß er, wenn ich ihn direkt fragen oder versuchen würde, ihn so weit zu bringen, daß er sich auf ein bestimmtes Ereignis konzentrierte, sich taub stellen oder ausweichen würde, weniger, um geheimnisvoll zu wirken, als weil das Erinnern ihn langweilte, bestimmt verstand er die Leute nicht, die genußvoll alles erzählen, was sie erlebt haben und auswendig kennen, bis hin zum jeweiligen Ende, und schon gar nicht diese narzißtischen Verfasser von Tagebüchern, die es nie schaffen, sich von ihren abgelaufenen Tagen zu lösen und sie noch einmal blumig ausbreiten.
Und so versuchte ich nicht, ihm nachträgliche Erklärungen für seine Ansichten zu entlocken oder zu entreißen, es war vergeblich, wenn sie kamen, kamen sie von allein und vielleicht einige Abende später, und erlaubte mir allenfalls einen kleinen Scherz mit ihm: »Und die, die in der Öffentlichkeit tanzen, Bertram? Sind die auch gefährdet?« Tupra hatte Humor oder akzeptierte zumindest den meinen. Er warf mir einen raschen Blick aus dem Augenwinkel zu, biß sich innen auf die Wange, damit ihm nicht ein halbes Lächeln entwischte, und spann meinen Spott gewöhnlich fort, oder so schien es mir, denn nichts an ihm war durchsichtig oder sicher oder selbstverständlich. »Nein, Jack, Tänzerinnen sind es sehr viel weniger, du mußt bedenken, das Bewegen schützt, das riskante ist, stillzustehen, das macht dich verletzlicher. Wer flieht oder sich versteckt, weiß das oft nicht, er läßt zu, daß die Angst von ihm profitiert, statt selbst von der Angst zu profitieren.« Er besaß das Geschick, Sentenzen in einer Weise zu verbinden, daß die zweite von der ersten abwich und die dritte von der zweiten und so weiter, bis er ihrer aller müde wurde oder einer Weile dem Schweigen den Vorzug gab. Es war daher schwierig, mit ihm irgendeine Angelegenheit zu vertiefen, es sei denn, er selbst stellte die Fragen und er war es, der einen tiefen Grund suchte. »Wie profitiert man von der Angst?« Ich erlag der Verlockung seiner Abweichung. »Ich nehme an, Sie meinen die eigene Angst.« Worauf er erwiderte: »Die Angst ist die stärkste Kraft, die existiert, wenn es einem gelingt, sich ihr zu fügen, sich in ihr einzurichten, in gutem Einvernehmen mit ihr zu leben. Und seine Energien nicht mit Kämpfen vergeudet, um sie zu vertreiben. Bei diesem Kampf gewinnt man nie ganz; noch in den Augenblicken scheinbaren Sieges stellt man sich auf ihre Rückkehr ein, man lebt in der Bedrohung, und dann ist man gelähmt, und es ist die Angst, die profitiert. Wenn man sie dagegen zuläßt (das heißt, wenn man sich anpaßt, wenn man sich daran gewöhnt, daß sie da ist), besitzt man eine Kraft, die mit keiner anderen vergleichbar ist, und kann von ihr profitieren, kann sie benutzen. Ihre Möglichkeiten sind unbegrenzt, sind größer als die des Hasses, des Ehrgeizes, der Bedingungslosigkeit, der Liebe, der Rachsucht; sie sind unbekannt. Ein Mensch mit fundierter Angst, mit einer aktiven, aber in sein normales Leben integrierten Angst, einer täglichen Angst, ist wahrhaft übermenschlicher Taten fähig. Das wissen die Mütter kleiner Kinder, die meisten. Und das weiß jeder, der in einem Krieg gewesen ist. Aber du bist in keinem gewesen, nicht wahr, Jack?, du hast dieses Glück gehabt. Das bedeutet, daß dir zu deiner Persönlichkeitsbildung immer etwas fehlen wird. Man sollte die Mütter in die Schlachten schicken, mit ihren Kindern in der Nähe, in Sichtweite, in Reichweite; sie tragen die Angst unter der Haut, sie ist ständig da; es gäbe keine besseren Kämpferinnen als sie.« Wenn ich ihn fragen würde, in welchen Kriegen er gewesen war oder an welchen er teilgenommen hatte, dann würde er mir sicher nicht antworten, er würde sie nicht erwähnen; und wenn ich ihn bitten würde, seine Überlegungen über die vollkommene Persönlichkeitsbildung eines Mannes oder über die Grausamkeit von Müttern mit kleinen Kindern zu erweitern, dann würde er höchstwahrscheinlich das
Weitere Kostenlose Bücher