Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Titel: Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
Vom Netzwerk:
Verhaltens- und Charakterregeln, die wahrscheinlich, wenn nicht sicher und richtig waren in seinen absorbierenden, wertenden Augen, die mit einem einzigen Blick eine ganze Räumlichkeit oder ein ganzes Lokal voller Menschen, ein Restaurant, eine Diskothek, ein Kasino, einen Billardsalon, einen eleganten Festsaal, eine große Hotelhalle, einen Empfang im Königshaus, eine Oper, einen pub , eine Boxarena, eine Pferderennbahn, und ich würde sagen, wenn es nicht so offensichtlich übertrieben klänge, sogar ein Fußballstadion erfassen konnten, Stamford Bridge, das Stadion von Chelsea. Etwas so Überschaubares wie die Szenerie eines kalten Abendessens erfaßten seine blassen Augen nicht, vielmehr durchdrangen, zerlegten und leerten sie es in einem einzigen Augenblick (einschließlich meiner Person), das war für ihn ein Kinderspiel.
    Es waren Ahnungen, Vermutungen, Vorstellungen von mir; er selbst gab nur Bruchstücke preis und warf einzelne Streiflichter auf sein früheres Leben in Form von Sentenzen und Sprüchen oder bisweilen von unfreiwilligen Aphorismen, oder ihm gelangen fast so etwas wie originelle Sprichwörter. Und so stellte man seine eigenen Verknüpfungen her, die am Ende jedoch immer in der Luft zu hängen schienen, so gut man die Fäden auch erfaßt hatte und so perfekt der Knoten war, den man geknüpft hatte, so als wüchsen in seinem Fall die dunklen Bereiche immer dann, wenn es einem gelungen war, die Asche irgendeiner diffusen Periode oder bedeutungslosen Episode seiner Existenz zu erkennen, oder als diene jede minimale Erleuchtung dazu, die Weite dessen, was im Dunkeln oder im Trüben oder im Verschwommenen oder gar Ungestalten lag, nur noch besser ermessen zu können, so wie seine langen und von den Frauen beneideten Wimpern in ihrer gleichsam schwebenden Unbeirrbarkeit immer die letzte Absicht seiner Betrachtungen, die wahre Bedeutung seiner Blicke trübten oder verschwimmen ließen, die zwar klar, schmeichelnd und warmherzig, aber schwer zu entziffern waren. Es war nicht verwunderlich, daß wir Männer diesen so gewinnenden, aber auch so geschmückten Augen mißtrauten.
    Es konnte zum Beispiel geschehen, daß wir dem Auftritt einer Sängerin in einem der glamourösen, aber altmodischen Nachtklubs beiwohnten, in die er uns bisweilen gerne schleppte, um die vorausgegangenen Strapazen zu mildern und uns zu einem gelassenen Ausklang zu verhelfen, bevor er uns nach Hause schickte, und dabei alle – oder die Standfesten unter uns, die größten Nachtschwärmer, oder diejenigen, die er am längsten an seiner Seite zurückhalten konnte – an einem Tisch nah der Tanzfläche oder der Bühne saßen. Und während er die dichten Wimpern auf die Künstlerin gerichtet hielt, murmelte Tupra plötzlich: »Frauen, die in der Öffentlichkeit singen, sind sehr gefährdet und immer Opfer der Männer, die hinter ihnen stehen; diese hier würde auf der Stelle wie ein Sack in sich zusammenfallen, wenn der Mann, der jede Nacht ihre Schritte lenkt und sie auf diese Bretter hebt, ihr den Rücken kehren und sich entfernen oder sich gar gegen sie wenden würde. Ein böser Hauch von ihm, und sie würde umfallen und nicht mehr aufstehen wollen.« Einige Sekunden lang fragte ich mich, ob er aus einem konkreten Wissen heraus sprach, ob er womöglich informiert war über die selbstmörderische Abhängigkeit jener Frau von jemandem, dessen Gesicht oder Name ihm bekannt war (Mehlsack, Fleischsack, in sie werden Bajonett und Lanze gerammt, in einem ist Schmerz und Traum und im anderen nichts). Und wenn ich eine Sondierung wagte (»Kennen Sie sie, Mr. Tupra, diese Frau, diesen Mann?« Oder vielleicht waren wir schon zu Bertram übergegangen), dann stellte er klar, daß das nicht der Fall war oder nicht unbedingt, und daß er sich darauf beschränkte, die Lehren seiner Vergangenheit auf den heutigen Tag anzuwenden: »Ich muß sie nicht persönlich kennen«, antwortete er, ohne seine Wimpern von der Sängerin abzuwenden, das heißt, während er mir unverwandt das Profil zeigte, in einem Ton leichten oder nur theoretischen Bedauerns. »Ich weiß genau, wie sie sind, er und sie, ich habe sie dutzendweise gesehen, von Bethnal Green bis nach Kairo, überall.«
    Das gab mir einen Gedanken oder mehrere ein; ohne jeden Zweifel hatte er Bethnal Green besucht, dieses elende Viertel im Osten, und das nicht selten, und er war in Ägypten gewesen, wahrscheinlich nicht als Tourist. Es drängte sich auch die Frage auf, ob er vielleicht einmal

Weitere Kostenlose Bücher