Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Titel: Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
Vom Netzwerk:
Augenblick sein, nichts ist kurz, wenn man es nicht einschränkt. Aber sicher hing es jetzt von mir ab, ob er sich in eine ganze Nacht einschließlich Morgendämmerung oder in die trunkene Redseligkeit einer zweifachen Schlaflosigkeit verwandelte.
    »Du hast mich noch nicht ganz um den Gefallen gebeten, ich weiß noch immer nicht, worin genau er besteht. Und was das für Privatpersonen sind, was für private Privatpersonen.« Und als ich diesen Ausdruck der jungen Frau laut wiederholte, konnte ich nicht umhin, an Wheeler zu denken und daran, was er über die Monarchen und Privatmenschen rezitiert hatte: ›Wie viel Behagen müssen die Könige missen, dessen sich die Einzelnen erfreuen! Und was haben die Könige, das nicht auch die Einzelnen haben, außer dem Zeremoniell, außer der allgemeinen Zeremonie?‹ Ihm waren diese Zitate in den Sinn gekommen, ohne daß er sein Gedächtnis hatte anstrengen müssen, ich dagegen wußte noch immer nicht, woher sie stammten.
    Es waren also zwei Fragen, die ich bei jener Gelegenheit stellte; den Rest vertagte ich. Aber beim Vertagen weiß man nie, ob man schon dabei ist, zu verzichten, denn es kann in jedem Augenblick – das heißt immer – kein Morgen mehr geben, weder ein Danach noch ein Später, ja, das ist in jedem Augenblick möglich. Doch nein, es stimmt nicht: immer kommt noch mehr, immer steht etwas aus, ein wenig mehr, eine Minute, die Lanze, eine Sekunde, das Fieber, und noch eine Sekunde, der Traum – die Lanze, das Fieber, mein Schmerz und das Wort, das Gift, der Traum – und auch die endlose Zeit, die nicht einmal nach unserem Ende zögert oder den Schritt verlangsamt und weiter hinzufügt und spricht, murmelt und nachspürt und erzählt, obwohl wir nicht mehr hören und verstummt sind. Schweigen, schweigen. Das ist das hohe Ziel, das niemand erreicht, nicht einmal nach seinem Tod. Es ist, als hätte von allem Anfang an nichts aufgehört, zu tönen, nicht einmal all das, was wir, die Lebenden, nicht mehr erkennen noch erforschen können, und vielleicht leben sie, leben wir alarmiert und beunruhigt durch unzählige Stimmen, deren Herkunft uns unbekannt ist, so fern und erstickt sind sie oder schon so tief begraben. Vielleicht sind sie das schwache Echo der nicht aufgezeichneten Existenzen, deren Schrei in ihrem ungeduldigen Geist gärt, seit gestern oder seit Jahrhunderten: »Wir wurden da und da geboren«, rufen sie aus in ihrem endlosen Warten; »und starben da und da.« »We died at such a place.« Und auch schlimmere Dinge.

B isweilen waren wir zu viert oder zu fünft, wir konnten sogar gelegentlich sechs oder sieben sein, wenn Tupra auch Jane Treves oder Branshaw oder beide dazu lud, mit denen ich dann später doch zusammentraf, oder auch irgendeinen weiteren Informanten oder sporadischen externen Führer, je nach Ambiente und Bereich. Es waren Phasen, glaube ich, in denen Tupra nach Amüsement und vielen Menschen zumute war und er Begleitung wünschte, nicht so sehr Gesellschaft als vielmehr Begleitung, Eskorte oder Gefolge oder vielleicht Rudel, so als wollte er ein Gefühl von Zugehörigkeit erfahren, greifbar und laut das Gefühl empfinden, ein Team oder eine Gruppe oder eine Einheit mit uns zu bilden, und oft »wir« sagen können. Ich hatte mehrere Nächte und Tage eher den Eindruck, einer Bande oder einem Trupp anzugehören, der etwas von einer Stierkämpferquadrille hatte. Ich ahnte, daß dieser Herdentrieb mit den Zeiten zusammenfiel, in denen er vor Beryl floh oder Beryl vor ihm; wenn denn sie es war. Oder wer auch immer, es war egal: in denen keine konkrete Frau sich genügend in Beschlag nehmen ließ und ihn folglich auch nicht in seiner freiesten oder sozialsten oder diplomatischen oder der Vorbereitung seiner Gebiete und Manöver gewidmeten Zeit ablenkte, oder aber in denen er sich der drohenden, übermäßigen Konkretisierung irgendeiner anderen entzog.
    Es waren Ahnungen, nichts weiter, Tupra pflegte nicht viel über persönliche Dinge zu sprechen, oder nicht klar und deutlich, nicht erzählerisch (es geschah sehr selten, daß er sich mit einer Erzählung Gehör verschaffte oder auch nur mit einer vollständigen Anekdote; dagegen war er mehr als willig, ihnen zuzuhören), er tat es nur in vagen Andeutungen, in stillschweigenden Voraussetzungen und einzelnen Sätzen, die scheinbar ohne Vorbedacht auf frühere Erfahrungen von ihm anspielten und aus denen er gerne Gesetzmäßigkeiten ableitete und Schlüsse zog oder vielmehr Anleitungen und

Weitere Kostenlose Bücher