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Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Titel: Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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tun, es geschah ohne meinen Willen, wie in den verschlungenen Nebelwolken des Traums, das gehörte meinem theoretischen oder in Klammern gesetzten Leben an, dem, das in Wirklichkeit nicht zählt, es geschah nur halb und ohne meine volle Zustimmung: ›Es liegt kein Anlaß vor, hier liegt kein Rechtsfall vor‹, würde der Richter sagen, der darüber zu urteilen hätte.« Nein, das könnten sie nicht vor diesem Richter vorbringen, der jetzt darüber zu urteilen hätte, und doch würden nicht wenige es tun: sie sind unverwechselbar, ich kenne sie in meiner Zeit. Es sind immer viele.
    Wie trostreich mußte diese ferne Hoffnung, diese aufgeschobene Entschädigung oder verzögerte Gerechtigkeit, diese Aussicht, diese Vision, diese Vorstellung für die Menschen festen Glaubens in den vielen Jahrhunderten sein, in denen sie ihrer gewiß waren und sie sich ausmalten und an ihr festhielten, als sei sie Teil des allen gemeinsamen Wissens, der Ungebildeten wie der Gebildeten, der Reichen wie der Armen, und weniger eine Verheißung und ein desideratum als fast ein Vorwissen. Wie beschwichtigend, diese Vorstellung, vor allem für die endgültig Unterjochten, für diejenigen, die wußten, daß sie im Leben verurteilt waren – in ihrem ganzen stillen Leben ohne Kehrseite noch Umkehr –, straflose Ungerechtigkeiten und Übergriffe und Erniedrigungen zu erleiden, ohne daß die Wiedergutmachung der Beleidigungen möglich und die Bestrafung ihrer mächtigeren oder grausameren oder nur entschlosseneren Beleidiger vorstellbar gewesen wären. ›Hier werde ich es nicht erleben‹, mögen sie gedacht und sich dabei auf die Unterlippe oder die Zunge gebissen haben, bis es schmerzte, um dann den Biß zu lockern, ›nicht in dieser so ungleichen, harten Welt, nicht in ihrer starren Ordnung, die ich nicht verändern kann und die mir so schadet, nicht in dieser unausgewogenen Harmonie, die sie regiert und schon mein Grab gräbt, um mich bald zu vertreiben; wohl aber in der anderen, wenn die Zeit zu Ende ist und wir uns alle versammeln zum großen Tanz von Freud und Leid, zu dem wir ohne Ausnahme geladen sind, und der Richter, den man nicht belügt, mir recht gibt und mich belohnt, denn er weiß längst Bescheid über das Geschehene, er ist überallhin gereist und hat alles gesehen und gehört, noch das Winzigste und Unbedeutendste in der Gesamtheit der Welt oder einer einzigen Existenz; was mir heute widerfahren ist, dieser üble Schimpf, den ich selbst vergessen werde, wenn ich noch einige Jahre lebe und er sich nicht wiederholt oder aber so viele Male, daß ich sie miteinander verwechseln und mich an ihn gewöhnen werde, weil es mir zweckmäßig erscheint, ihn nicht länger als Verbrechen zu betrachten, wird nicht vergessen werden von diesem Richter, der sich an alles erinnert mit seinem alles umfassenden Register oder endlosen Archiv der Geschichte der Zeit, von der ersten Stunde bis zum letzten Tag.‹ Was für ein gewaltiger Trost für die absolute Einsamkeit, zu glauben, daß wir in jedem Augenblick unserer wenigen, ruchlosen Tage gesehen und sogar ausgespäht wurden, mit übermenschlicher Hellsicht und Aufmerksamkeit und mit übernatürlicher Aufzeichnung oder Erinnerung an jedes lästige Detail und jeden hohlen Gedanken: So mußte es sein, wenn es so war, kein menschlicher Geist hätte das ertragen, alles von jedem Menschen jeder Epoche zu wissen und im Gedächtnis zu behalten, es ständig zu wissen, ohne auch nur eine einzige Information von irgend jemandem zu übergehen, auch wenn sie noch so entbehrlich wäre und nichts addierte oder subtrahierte: eine wahre Verdammnis, ein Fluch, eine Qual oder sogar die himmlische Hölle selbst, vielleicht würde der Richter seine Allwissenheit bereuen angesichts des ganzen Geschehens, verärgert über das Unmaß langweiliger, kindischer, dummer oder überflüssiger Ereignisse, oder er wäre zum Trinker geworden, um vergeßlich zu werden (hoch das Glas und rein damit, hoch das Glas und rein damit, ab und zu) oder besser opiumsüchtig (eine gelegentliche Pfeife im Liegen, um leer von Wissen zu werden).
    »Es gibt viele Leute, die ihr Leben als Stoff einer minuziösen Erzählung empfinden«, hatte ich zu Tupra gesagt, als ich für ihn Dick Dearlove deutete, »sie haben sich in ihm eingerichtet in Erwartung ihrer hypothetischen oder künftigen Geschichte. Sie nehmen es sich nicht ausdrücklich vor, es ist nur eine Art und Weise, die Dinge zu leben, ein Begleitetsein, sagen wir mal, als gäbe es

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