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Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Titel: Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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Zuschauer oder ständige Zeugen noch der größten Belanglosigkeiten oder der toten Zeiten. Diese narzißtische Tagträumerei so vieler Zeitgenossen, bisweilen ›Bewußtsein‹ genannt, ist vielleicht nur ein Ersatz der alten Vorstellung von der Allgegenwart Gottes, der mit seinem Auge aufmerksam jede Sekunde des Lebens eines jeden verfolgt, das war im Grunde sehr schmeichelhaft, sehr tröstlich trotz der negativen Seite, das heißt des darin enthaltenen Elements von Drohung und Strafe und des erschreckenden Glaubens, daß niemals etwas ganz vor allen und für immer verborgen werden kann; wie auch immer, drei oder vier Generationen vorherrschender Ungewißheit oder Ungläubigkeit genügen nicht, damit der Mensch sich damit abfindet, daß seine mühselige und nicht erbetene Existenz vergeht, ohne daß jemand ihr jemals beiwohnt oder sie betrachtet, ohne daß jemand sie beurteilt oder mißbilligt.«
    Vielleicht kann nicht einmal der größte Atheist dies ohne weiteres hinnehmen, ohne sich rationale Gewalt anzutun. Und der erzählerische Abscheu oder Horror, den ich Tupra gegenüber erwähnt hatte – wer weiß, ob wir ihn nicht alle bis zu einem gewissen Grad empfinden, nicht nur die Dearloves der Welt –, stammte vielleicht ebenfalls aus den alten Zeiten des festen Glaubens, als ein ganzes tugendsames Leben voller guter Taten und eingehaltener Gebote durch eine einzige, zuallerletzt begangene schwere Sünde – tödlich hieß sie, die Warnung nahm kein Blatt vor den Mund – zunichte gemacht werden konnte, ohne Frist für Reue oder das Erlangen von Vergebung, der Vorsatz der Besserung kaum mehr glaubhaft angesichts der knappen Zeit, die dem bliebe, der ihn gefaßt hätte, die alten Menschen mußten das letzte Stück ihres Weges wie auf glühenden Kohlen gehen, um nicht zur Unzeit Anfechtungen zu erliegen oder, was dasselbe ist, um jeden erzählerischen Irrtum oder Schandfleck zu vermeiden, der sie am Ende brandmarken und sie vor dem Gericht verurteilen würde. Es schien ein ungerechtes System zu sein; ich weiß nicht, ob göttlich, aber natürlich wenig human, allzu abhängig von der Aufeinanderfolge oder Reihenfolge der Worte, Werke, Auslassungen und Gedanken, ich konnte nicht umhin, mich an einen der Gründe zu erinnern, die mein Vater mir dafür genannt hatte, daß er nichts gegen seinen Denunzianten Del Real unternommen hatte, keine Abrechnung oder späte Entschädigung, als es ihm endlich möglich gewesen wäre, sie nach dem Tod des Tyrannen zu suchen, des jetzt fernen Franco, dem der Verräter einen frühen Dienst geleistet hatte, der ihm mit universitären Pfründen vergolten wurde und mit dem garantierten Schutz seiner barbarischen Gesetze, was diesen Dienst betraf, sechsunddreißigeinhalb Jahre lang. Sechsunddreißig Jahre immun, von 1939 bis 1975 und von jenem Mai bis zu diesem November: einige mehr als die Jahre Marlowes, doppelt so viele, wie mein Onkel Alfonso gelebt hatte … »Ich hätte ihm eine Art Rechtfertigung a posteriori gegeben, einen falschen Halt, einen anachronistischen Grund für sein Handeln«, hatte mein Vater auf meine Frage nach seinem schlechten Freund gesagt. »Du mußt bedenken, daß das Chronologische, wenn man das Leben als Ganzes betrachtet, an Bedeutung verliert, was vorher kam, unterscheidet sich nicht so sehr von dem, was nachher kam, nicht die Handlungen von ihren Folgen, nicht die Entscheidungen von dem, was sie auslösen. Er hätte denken können, daß ich ihm am Ende doch etwas angetan hatte, egal wann, und hätte in größerem Einvernehmen mit sich selbst ins Grab sinken können. Und so war es nicht, so ist es nicht gewesen. Ich habe ihm nie geschadet, ich habe oder hatte ihm nie etwas getan, weder vorher noch nachher, und natürlich nicht damals …«

J a, mein Vater und Wheeler waren schon sehr alt, und vielleicht gingen sie das vorletzte Stück ihres Weges wie auf glühenden Kohlen, nicht aus religiösem Schrecken, sondern aus biographischer Furcht; oder vielleicht eher nicht, vielleicht fürchteten sie allenfalls, sich mit Ruß zu beflecken. Mein Vater schien ziemlich mit sich selbst im reinen und gelassen in seiner Gegenwart zu sein, mit der einen oder anderen überlebenden Freundin und seinen Kindern und Enkeln, die ihn besuchten und ihn dazu brachten, von der persönlichen oder kollektiven Vergangenheit zu sprechen, und das ist die große Erleichterung (ich fehlte in der letzten Zeit, seit meinem erneuten Fortgang nach England und meiner bewußten

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