Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)
auch als Arzt mit weißem Kittel verkleidet gesehen auf der einen oder anderen Zeichnung der Nazi-Zeit, auf der Lauer mit seiner Stirnlampe und mit einer Vorliebe für junge halbnackte Frauen wie Pérez Nuix an jenem Tag und die Frau mit dem hochgeschobenen Rock in der Damentoilette in jener Nacht, wie auch seine eisernen Vorgänger des Mittelalters und der Renaissance, die Jungfrauen durch Wald und Feld verfolgten, die armen Verzweifelten zerrissen sich die Kleider auf ihrer vergeblichen Flucht in der Phantasie der Bilder. Dagegen handelt es sich für uns Latinos, die wir Wörter mit quasi obligatem Geschlecht unser eigen nennen, um ein weibliches und überdies altes Wesen, jene hinfällige Alte mit der Sichel, bekannt von so vielen Bildern und aus so vielen Texten, und vielleicht sind deshalb ihre dargestellten Opfer häufiger Männer als Angehörige ihres eigenen Geschlechts, obwohl sie uns alle heimsucht und erjagt oder uns buchstäblich niedermäht mit ihrem bäuerlichen Werkzeug, es hat einen Sinn, daß sie alt ist, sie hat vor langer Zeit im Akkord zu arbeiten begonnen und nicht eine einzige Stunde der Nacht oder des Tages geruht, seit sie mit jenem unbekannten und fernen Toten begann, der noch immer darauf wartet, daß die Welt untergeht und niemand mehr da ist, um endlich gerichtet zu werden und seine Geschichte zu erzählen und seinen Fall zu schildern, »Wenn alle die Beine und Arme und Köpfe, die in einer Schlacht abgehauen sind, sich am Jüngsten Tag zusammenfügen und schreien alle: Wir starben da und da.« Und es hat auch Sinn, daß es in der deutschen Vorstellung ein Ritter in der Blüte seines Lebens ist, ein feuriger, starker Krieger, imstande, ohne Unterlaß Leben zu entreißen, ein erfahrener Profi mit den kalten Armen eines disziplinierten Wachtmeisters, denn kein anderes Wesen wäre fertig geworden mit einer so unendlichen Aufgabe in den alten Zeiten; und viele Jahrhunderte später war dies das Problem der Naziführer, die sich überlegten, wie sie die Arbeiten der Massenvernichtung rascher und billiger und weniger ermüdend verrichten konnten, und so griffen sie auf die Intelligenz von Männern in weißen Kitteln zurück, auf Physiker, Chemiker und Biologen und auch auf die Ärzte mit ihrer Stirnlampe, töten ist nicht so einfach und braucht seine Zeit. Und natürlich ermüdet es und erschöpft sogar.
»We died at such a place«, das hatte Wheeler mir in seiner und Shakespeares Sprache zitiert, und es war zu vermuten, daß bei diesem Jüngsten Gericht, wie es der feste Glaube jener Zeit erwartete, bei dem die ganze Geschichte der Welt zur gleichen Zeit und im Detail von allen erzählt werden würde, die ihr angehört und sie gebildet hatten, angefangen beim mächtigen Kaiser, der eine besonders dauerhafte Spur hinterlassen hatte, bis hin zum Neugeborenen, das mit seinem ersten Weinen aus der Erde kam, ohne sie jemals zu durchschreiten und den Fuß auf sie zu setzen, und in der Erinnerung keines Lebenden auch nur sein unvollendetes Gesicht hinterließ, es war zu vermuten, daß an diesem letzten Tag, mit all seinem Raum und seiner Zeit verwandelt in einen Affenstall und ein wirres Geschrei, wie ich gegenüber Wheeler phantasiert hatte – vielleicht würde dieser Tag schon der Ewigkeit angehören und daher nur stattfinden, aber keinen Verlauf haben –, sich auch die Verurteilten und ihre Verurteiler einfinden und versammeln und abermals gegenüberstehen würden, auch die Verratenen und ihre Verräter, die Verfolgten und ihre Verfolger und die Gefolterten und ihre Folterer, die Verstümmelten und ihre Verstümmler, die Ermordeten und ihre Mörder und die Opfer und ihre Henker mitsamt denen, die sie angestiftet oder denen sie den Befehl erteilt hatten, der durchgeführt wurde, alle vor dem Richter, den man nicht belügen kann (milder oder zorniger Richter, unerbittlich oder erbarmungsvoll, wer kann das wissen). Und sie würden versuchen, sich gegenseitig in Bedrängnis zu bringen, und sich zu diesem Zweck auf die Gerechtigkeit ihrer jeweiligen Sache und damit auf ihre Unschuld oder die Milderung ihrer Schuld berufen, das war es, wozu Heinrich V. (jetzt wußte ich, welcher König bei Shakespeare es war) von jenen Soldaten angehalten wurde, unter die er sich verhüllt und inkognito im Lager mischte, vor dem Morgengrauen der Schlacht, wie Wheeler sich erinnert und erzählt hatte, alle schon unter Waffen; und einer von ihnen ging her und sagte: »Schwierige Rechenschaft wird der König am letzten
Weitere Kostenlose Bücher