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Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Titel: Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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hatte, denn der Giftstoff Botulin erzeugte in der Tat Muskellähmung, griff das Nervensystem an, am Ende konnte man weder sprechen noch schlucken (ah, eine Krankheit, die das Sprechen unterdrückte), später dann nicht einmal atmen, und starb so, durch Ersticken, das erinnerte mich an die familiären Warnungen während der Kindheit, als man noch jede Beule an einer Konservendose fürchtete oder das Entweichen von Gasen beim Öffnen oder den geringsten ungewohnten Geruch, der in geschlossenem Zustand von ihnen ausging, Konserven waren überhaupt keine Neuheit mehr, aber sehr verbreitet waren sie auch nicht, und die Großmütter waren mißtrauisch, die Mütter nicht mehr oder nur ein wenig, durch den Einfluß; in meinem ganzen Leben habe ich nie von jemandem gehört, der in Spanien an Botulismus gelitten hätte (oder vielleicht in sehr rückständigen ländlichen Regionen), aber ein Satz der herrschenden Furcht hatte sich mir eingeprägt, was uns als Kind beeindruckt, verschwindet nie, ein Satz meiner Großmutter mütterlicherseits, glaube ich, was das Kind beeindruckt, bewahrt der Erwachsene, der an seine Stelle tritt, für immer, bis zum letzten Tag, es war eine dieser Drohungen, die man wortwörtlich nimmt, zutiefst erschrocken über die sofortige Wirkung, die dem Gift zugeschrieben wird, geblendet vom Nimbus des Blitzartigen und Extremen, der grenzenloses Phantasieren erlaubt, und das auf beiden Seiten, als Opfer und als Mörder: »Den Inhalt einer Dose oder Konserve, die verdächtig ist, und das sind die meisten, dürft ihr nicht mal probieren, nie und nimmer«, so hatte in etwa die Warnung gelautet, die wir vier von den Dienstmädchen hörten, »wenn er schlecht ist, ist das Gift nämlich so stark, daß schon die Berührung mit der Zungenspitze manchmal tödlich sein kann.«
    Man stellte sich etwas so Normales und Unbedeutendes wie einen Löffel vor, dessen Rand oder Spitze die Frau, die im Kochtopf rührt, an die Zunge führt, um festzustellen, ob Salz fehlt oder ob das Essen noch lauwarm ist oder schon heiß, und sie tut es in aller Ruhe, während sie summt oder trällert oder sogar pfeift (obwohl damals nur die Männer pfiffen oder so junge Mädchen, daß sie fast noch Kinder waren), vielleicht schaut sie dabei nicht auf die Kasserolle oder den Topf, sondern späht durch das Fenster und wirft einen Blick in den Hof, wo andere Frauen oder Dienstmädchen Teppiche ausklopfen, die aus den Fenstern hängen, oder die feuchte Wäsche mit Klammern befestigen (immer zumindest eine zwischen den Zähnen), oder weiter drinnen mit trägem Staubwedel Staub wischen oder auf einem Schemel stehen und die Glühbirne an der Decke herausschrauben, die durchgebrannt ist. Wenn man die Warnung hörte, die auch für die Zukunft an uns gerichtet wurde (»Ihr dürft also den verdächtigen Inhalt nie berühren, für alle Fälle. Bis er gekocht ist«), stellte man sich vor, wie dieser imprägnierte Löffel die Zunge oder die Lippen berührte und die Frau, wie vom Blitz oder von einer Kugel getroffen, leblos auf dem Küchenboden hingestreckt lag, während ihr Essen weiterkochte, und dann fürchtete man für seine Mutter, wenn sie es war, die kochte, denn wenn man das Wort »tödlich« hörte, dachte man nicht an etwas Aufgeschobenes oder Langsames, im Augenblick nicht Wahrnehmbares, dessen Auswirkungen später auftreten würden, sondern an so etwas wie eine spektakuläre, tödliche elektrische Entladung, einen Blitzstrahl, Kinder können sich nur das Unmittelbare oder sehr Rasche vorstellen, wenn etwas verhängnisvoll ist, dann sofort und niemals auf lange oder mittlere Sicht, wie der Tatzenhieb eines Tigers oder der Degenstich eines Musketiers in die Stirn oder der Pfeil eines Mohren in unser Herz, was wir uns eben so ausdachten bei unseren Spielen, Gefahren sind drohend oder sie sind keine wirklichen Gefahren, »Am Sankt-Nimmerleins-Tag«, das ist der Wahlspruch des Kindes für alles, was nicht sofort eintritt oder nicht heute oder in der bloßen Verlängerung von heute, also morgen, geschieht; natürlich legt es keine Ironie hinein, und das Motto wird auch nicht in diesen Worten ausgedrückt, sondern in den kindlicheren »Bis dahin dauert es noch lange«, meistens als wiederholte Frage bei jedem Warten oder Aufschub: »Dauert es noch lange, bis wir ankommen?«, »Dauert es noch lange bis zum Sommer?«, »Bis Weihnachten?«, »Bis zu meinem Geburtstag?«, »Bis der Film anfängt?«, »Und bis morgen?«, fünf Minuten später gefolgt von

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