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Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Titel: Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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der Ungeduld, die alle Zeit leugnet oder aufzehrt, »Ist schon morgen?« »Nein, mein Junge, es ist noch nicht morgen, es ist noch heute, es dauert noch, bis heute zu Ende ist.« »Und dauert es noch lange, bis ich wieder mit Luisa zusammen bin, damit ich nach Hause und nach Madrid zu den Kindern zurückkehren kann?« Oder die Frage, die im Erwachsenenalter stärker wird und uns bedrängt, ohne jemals so deutlich formuliert zu werden: »Und wie lange dauert es noch bis zu meinem Tod?«
    Deshalb fragte ich sie, als ich sie zwei Tage nach jener Nacht mit den Manoias und Reresby und De la Garza anrief; bevor sie irritiert auflegen würde, erkundigte ich mich bei ihr nach dem Bottox, für den Fall, daß sie etwas wußte, Luisa hatte haufenweise Freundinnen und Bekannte, und einige waren betuchte Tussis, dem Ausdruck des Attaché zufolge, es erschien mir unglaublich und zynisch, daß am Ende womöglich die gleiche Lösung oder Dosierung dieses so gefürchteten Giftstoffes, mit dem die schlimmsten Kugeln, bestimmt für die wenigen Nazischergen, die umzulegen man versucht hatte, bestrichen wurden, jetzt dem Wohl der Reichen diente, ihren Launen und ihrem Luxus, um ihre Falten hinauszuzögern oder einige Monate lang zu beseitigen, und das mit Hilfe der gleichen Muskellähmung oder der gleichen anästhesierten oder beschädigten Nerven – was auch immer oder beides oder eines die Folge des anderen –, wie sie früher zu Schwindel und wachsender Bewegungslosigkeit, zu mangelnder Koordinierung und doppelter Sicht und schwerwiegenden Darmstörungen und dann zu Aphasie und dann zu Ersticken und vollständiger Lähmung und zum Tod geführt hatten. Ja, alles ist in einem unerträglich extremen Ausmaß lächerlich und subjektiv und partiell, denn alles schließt sein Gegenteil mit ein, hängt viel zu sehr vom Augenblick und vom Ort und von der Virulenz und der Dosis ab, je nachdem, wie diese bemessen sind, gibt es Krankheit oder Impfstoff oder gibt es Tod oder Verschönerung, so wie jede Liebe als Keim den Überdruß in sich trägt und seine Übersättigung jedes Begehren und sein Übermaß jedes Streben, und so lieben sich dieselben Menschen in derselben Lage und am selben Ort und ertragen einander nicht in unterschiedlichen Zeiten, heute, morgen; und was bei ihnen feste Gewohnheit war, wird allmählich oder plötzlich – es läuft auf das gleiche hinaus, darauf kommt es nicht an – unannehmbar und unangebracht, und das zwischen beiden so selbstverständliche Berühren und Streifen wird zu Kühnheit oder Affront, was am anderen gefiel und amüsant war, wird verabscheut und widert an und wird verflucht und ödet an, die gestern ersehnten Worte würden heute die Luft verpesten und Übelkeit erregen, man will sie auf keinen Fall hören, und die tausendmal gesagten sollen nicht mehr zählen (auslöschen, aufheben, ausstreichen, und schon vorher geschwiegen haben, danach trachtet die Welt, ob sie es weiß oder nicht, ob sie auf dem laufenden ist oder nicht). Und sogar noch um zu Hause anzurufen, muß man einen Grund finden, um ihn darzulegen oder vorauszuschicken.
    »Hast du von einem kosmetischen Produkt gehört, einem künstlichen Implantat oder was weiß ich, es soll eine Injektion sein, fällt schwer, das zu glauben, es heißt Bottox?« Mit dieser Frage im vorletzten Augenblick hatte ich außerdem versucht, ihre keimende Gereiztheit zu unterlaufen oder zu vereiteln, ihren plötzlichen Ernst nach ihrem Lachen, ihre Verstimmung wegen der anderen oder zu vielen Fragen über fehlende Unterwäsche und einen Blutfleck, den ich vielleicht geträumt hatte oder zu dem man, nachdem man ihn vollkommen, gründlich, ganz und gar getilgt hatte, bis hin zu seinem festsitzenden, widerständigen Rand, endlich das gleiche sagen konnte wie zu so vielen Tatsachen und Gegenständen und so vielen Toten, oder es macht sich nicht einmal irgend jemand die Mühe, es ihnen zu sagen: »Da es keine Spur von dir gibt, hast du nicht stattgefunden, bist du nicht geschehen. Du hast die Welt nicht durchschritten und deinen Fuß nicht auf die Erde gesetzt, du hast nicht existiert. Ich sehe dich nicht mehr, also habe ich dich nie gesehen. Da du nicht mehr bist, bist du nie gewesen.« Es konnte sein, daß Luisa genau das in Gedanken über mich sagte, wenn sie allein war oder schlief; obwohl sie ab und zu mit mir sprach und es die beständige Spur unserer beiden Kinder gab und ich noch nicht gestorben war. Ich war nur »in another country«, vertrieben aus ihrer

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