Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)
Zufall, niemandes Schuld; meine nicht, das war sicher, in keinem Fall. Vielleicht war das, was geschehen war, was ich in der Diskothek, später zu Hause bei Tupra, in der Wirklichkeit und auf dem Bildschirm gesehen und gehört hatte, noch kein Grund, sich zu entziehen oder das Weite zu suchen.
Mir wurde klar, daß ich mich zum Teil wegen der Musik leicht fühlte, wegen Peter Gunn , der für alles gut ist und nie versagt, und fast im selben Augenblick merkte ich, daß es auch – oder mehr noch – am Tanzen lag, dem ich unwillkürlich nachgegeben hatte, zweifellos in instinktiver, mechanischer, fast unbewußter Nachahmung der drei sorglosen Personen auf der anderen Seite des Platzes: die Füße bewegen sich bisweilen von allein, oder, wie es in meiner Sprache mit metaphorischer Genauigkeit heißt, sie werden lebendig, sie machen sich selbständig, ohne daß man es weiter bemerkt. Ich hatte zu tanzen begonnen, das war unglaublich, ich selbst, allein zu Hause, als wäre ich nicht mehr ich, sondern mein agiler, athletischer Nachbar mit den knochigen Gesichtszügen und dem gepflegten Schnurrbart, ein klarer Fall von visueller und auditiver Ansteckung, von Mimesis, begünstigt außerdem durch meine Tagträumereien. Ich ertappte mich (sozusagen) dabei, wie ich mich durch mein Wohnzimmer bewegte, das kleiner war als das von gegenüber und Möbel enthielt, mit kurzen, raschen und ich weiß nicht ob sich schlängelnden Schritten, ich bewegte wie verrückt Füße und Hüften und meinen Kopf, der den Takt markierte, meine Arme begleiteten nur wenig und knapp, leicht angewinkelt und leicht nach vorn ausgestreckt, in meinen Händen eine aufgeschlagene Zeitung, die ich natürlich nicht las, ich hatte sie mir vermutlich als Element des Gleichgewichts für mein Tanzen gegriffen. Und dann erfaßte mich Scham, denn als ich die ursprünglichen Tänzer wieder wirklich anschaute, sie schauend anschaute und nicht in Gedanken versunken, mußte ich erkennen, daß sie ihrerseits meine Musik in irgendeiner winzigen Pause der ihren gehört haben mußten – mein Fenster stand offen wie zwei bei ihnen – und mich ohne Schwierigkeiten lokalisiert hatten, als sie nach ihrer Herkunft suchten; und natürlich amüsierte es sie, mich zu sehen (der erhaschte Häscher, der gejagte Jäger, der ausspionierte Spion, der getanzte Tänzer); denn jetzt tanzten wir vier nicht nur absurderweise und ungleich verteilt nach ihrer Choreographie, sondern es hatte auch eine weitere Ansteckung stattgefunden, dieses Mal in umgekehrter Richtung: meine Idee mußte ihnen sinnreich oder phantasievoll erschienen sein, denn alle drei hielten jeweils eine aufgeschlagene Zeitung in den Händen, es war, als tanzten sie mit ihren Seiten, ein jeder einen engen Tanz.
Ich blieb sogleich stehen, ich spürte, wie mein Gesicht rot anlief, sie würden es zum Glück nicht sehen durch die Entfernung, vorläufig benutzten sie kein Fernglas, wie ich es sehr wohl von Zeit zu Zeit tat, wenn ich ihren Tanzsalon ausspionierte. Auch sie blieben sofort stehen, traten an ihre Fenster und machten mir Zeichen, sie grüßten mich, winkten mir zu, tatsächlich bedeuteten sie mir unmißverständlich, ich solle herüberkommen und mich ihnen anschließen, ich solle zu ihnen in die Wohnung kommen und nicht mehr allein tanzen, sondern dort im freundlichen Quartett. Das erfüllte mich mit noch mehr Scham; ich ließ meine Guillotine heruntersausen, trat zurück, löschte das Licht, stellte meine Musik leiser. Ich machte mich unsichtbar, unhörbar. Von nun an würde ich sie nicht mehr mit der gleichen Ruhe beobachten können, oder besser gesagt ihn, denn er war meistens allein, das war ein Nachteil. Aber ich mußte auch lächeln und sah einen Vorteil: Ich dachte, wenn mir ein Tag oder ein Abend so trostlos erscheinen sollte, daß nicht einmal die unfehlbaren Stücke Mancinis und andere mit ähnlicher Wirkung mein Gemüt aufheitern könnten, dann stünde mir die Möglichkeit offen, Gesellschaft und Tanz auf der anderen Seite des Square oder Platzes zu suchen, in dieser zwanglosen, fröhlichen Wohnung, deren Bewohner außerdem meinen Schlußfolgerungen und Vermutungen widerstand, meine interpretatorischen Fähigkeiten hemmte oder sich ihnen entzog, etwas, das so selten geschah, daß es ihm etwas leicht Geheimnisvolles verlieh. Diese Aussicht auf einen hypothetischen Besuch, dieser mögliche oder künftige Halt bewirkte, daß ich mich noch leichter fühlte. Ich griff nach meinem Fernglas für
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