Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)
das niemals ist. Ich kann mich also nicht beklagen und darf es noch weniger: Als Luisa mich an ihrer Seite haben wollte, genoß ich eine Gnade, die mir Tag für Tag erneuert wurde, so wie auch ich ihr eine gleichwertige erneuerte; und wenn sie mir eines Morgens nicht mehr bekräftigt wurde, dann konnte keine Rede davon sein, einen Vorwurf daraus zu machen oder es als bewußte Feindseligkeit oder Übelwollen aufzufassen, nichts davon war beabsichtigt, es war vielmehr ein Gefühl der Kapitulation und ein großer Kummer. Auch nicht, sich auf diese verwerflichen Floskeln unserer Zeit zu berufen, mit denen die zudringlichen Gesetze Millionen von Profiteuren schützen, die es heute gibt wie Sand am Meer: die erworbenen Rechte, die aufgewendete Zeit, die gehegten Pläne, die Macht des Status quo oder der Gewohnheit, der erreichte Lebensstandard, die Zukunft, mit der wir gerechnet hatten, und die investierte Liebe, alles wird meßbar. Und natürlich die gemeinsamen Kinder und die unterzeichneten Verträge. Oder die nicht unterzeichneten und nur mündlichen. Oder die nicht einmal mündlichen, sondern nur stillschweigenden, die stillschweigenden rechtlosen Verträge, die unserer kleinmütigen Welt zufolge die Zeit durch ihr bloßes Vergehen hinter unserem Rücken vorbereitet und abfaßt und außerdem auf eigene Rechnung und nach ihrem Ermessen ratifiziert, so als könnte sich die Zeit jemals ansammeln und begänne nicht mit jedem Morgengrauen und sogar in jedem Augenblick wieder von null an zu zählen …‹
Plötzlich fühlte ich mich leicht, vielleicht zum ersten Mal, seitdem ich zwei Nächte zuvor Manoias und Tupras Tisch in der Diskothek verlassen hatte, um den Auftrag des letzteren zu erfüllen und mich auf die Suche nach De la Garza und Flavia zu begeben, ich war aufgestanden und hatte meinen Stuhl zur Seite gerückt mit dem sofort einsetzenden Gefühl plötzlicher Schwere, von Unbehagen und etwas Ominösem, mit dem Nadelstich in der Brust und der Vorahnung eines Unheils, all das ging sehr viel mehr von Tupra aus als von mir selbst, als hätte er durch seinen bloßen Befehl den angehaltenen Atem oder das falsche Ersticken von jemandem auf mich übertragen, der sich anschickt, einen Schlag zu versetzen, oder als hätte er Blei auf meine wache Seele geschüttet und sie auf diese Weise in Schlaf sinken lassen, seitdem hatte dieser erahnte und dann gefühlte Druck mich nicht mehr verlassen, diese Last, oder sie war sogar noch gewachsen, Stunde um Stunde, so sehr, daß ich mich während dieser so langsam vergangenen achtundvierzig (oder es waren nicht einmal so viele) pausenlos gefragt hatte, ob ich verzichten und fortgehen, aussteigen, diese im Grunde so reizvolle und bequeme Arbeit in dem namenlosen Gebäude und für die namenlose Gruppe aufgeben sollte, die Sir Stewart Menzies oder Ve-Ve Vivian oder Cowgill oder Hollis oder sogar der berühmte Verräter Kim Philby oder gar der treue Winston Churchill höchstpersönlich vor mehr als sechzig Jahren gegründet hatten, wenig dürfte von ihnen übrig geblieben sein und von der Mentalität oder der Intention oder der geistigen Verfassung, aus der heraus sie sie einst erdacht hatten; oder vielleicht lebten sie doch fort, diese Mentalität und diese geistige Verfassung, und hatten sich nicht zersetzt, und es war einfach so, daß die Gruppe schon bei ihrer Gründung so drastisch und erbarmungslos war, wie es seit gestern schien oder wie ich es seit nur zwei Nächten ahnte: vielleicht war es so, daß sie alle, die ganze ursprüngliche Gruppe, bis hin zu Peter Wheeler und seinem jüngeren Bruder Toby Rylands, ebenfalls ihre Möglichkeiten im Blut trugen und es nur eine Frage der Zeit, der Versuchungen und der Umstände war, die ihnen schließlich zur Entfaltung verhalfen. Vielleicht waren diese Umstände und Versuchungen, diese unerwünschte Zeit jetzt eingetreten, vor kurzem oder als die Mehrheit nur noch in ihren Schülern und Erben fortlebte (Tupra war es von Rylands), in den jüngeren, leeren Jahren des Zerfalls und der Willensschwäche oder des Umbruchs und der Konfusion, mit denen die privaten Privatmenschen gekommen waren, Jahre der Verwaisung und der Entspannung, wie die junge Pérez Nuix sie genannt hatte, als sie mir von ihnen berichtete und sie mir schilderte an dem Abend mit ewigem Regen, an dem sie mich mit ihrem Hund besucht hatte, nachdem sie mir zu lange heimlich gefolgt war. Sie waren eingetreten, als ich da war, das war alles. Oder sie dauerten fort. Reiner
Weitere Kostenlose Bücher