Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)
weniger tägliche Freude haben, sei es auch nur ein Telefongespräch mit einer bestimmten Person am Ende des Tages, wenn es aus irgendeinem Grund, was weiß ich, wegen seiner Frau oder seinen oder unseren Kindern nicht einfach war, sich zu sehen. Ich weiß sehr wohl, daß dies eine grundlose, unbegründete Schlußfolgerung ist. Aber vielleicht bedeutet sie doch zumindest, daß noch niemand so sehr in ihr Leben getreten ist, daß er auch Zugang zur Wohnung hat, ich meine, täglich oder so oft, daß sie ihn schon erwartet oder nicht überrascht ist, wenn er unangemeldet erscheint und unten klingelt und sagt: Luisa, ich bin’s, ich bin da, mach mir auf, so als wäre »ich« sein unmißverständlicher Name, daß sie sich außerdem freut, wenn er beschließt, so zu erscheinen, sobald es Abend wird oder die Dämmerung anbricht. Nein, er wird noch nicht in ihr Leben getreten sein, der schmeichlerische, rätselhafte, bemühte und anfänglich sogar eifrige Mann, der beim Abendessen helfen und den Müll hinuntertragen und die Kinder ins Bett bringen will, um – wie soll ich sagen – häuslich zu werden und sich so allmählich einzurichten und zu bleiben, zufrieden damit, eine Leere zu füllen, und bestrebt, nichts von dem zu ändern, was er dort vorgefunden hat. Auch nicht der Verantwortungslose und Fröhliche, der Unruhige, den dagegen der Gedanke schreckt, einzutreten und den Treppenabsatz zu verlassen, hineinzugehen und meine Kinder kennenzulernen oder sie auch nur von der Tür aus, in die er sich lehnt, im Pyjama vorbeihuschen zu sehen, während er darauf wartet, daß Luisa mit ihren Anweisungen an die Babysitterin fertig wird und endlich ausgeht mit ihm, einer, der eher danach trachtet, sie nach und nach dort herauszuholen, sie Abend für Abend abzuspalten oder durch die Macht der Gewohnheit loszueisen, damit sie ihm ohne Bindungen und in allem und überallhin folgen kann. Auch der falsche Leidenschaftliche ist nicht in ihr Leben getreten, der heimliche, schwache Tyrann, der eher versuchen wird, sie mit seinen Dramatisierungen und üblen Machenschaften von der Außenwelt zu trennen, sie einzusperren und auf ihn selbst zu beschränken, nur auf ihn als letzten Horizont, einer, der auf Baisse spekuliert, um später auf Hausse zu besitzen und zu beherrschen, einer, der sich immer mit seinem so starken Gefühl oder seinem heftigen Leid rechtfertigt und darin wie fast alle anderen ist, so viele Menschen glauben, daß intensives Empfinden, von Leid und Qual ganz zu schweigen, sie schon gut und würdig macht und ihnen Rechte verleiht und daß sie dafür ständig und ewig entschädigt werden müssen, selbst noch von denen, die weder ihr Gefühl eingeflößt noch ihr Leid verursacht oder überhaupt etwas mit dem einen oder anderen zu tun haben, für diese Menschen steht die ganze Welt ständig in ihrer Schuld, sie kommen nie auf den Gedanken, daß das Gefühl gewählt ist oder man es zumindest zuläßt, und daß es fast nie aufgezwungen ist, kein Schicksal seine Hand im Spiel hat; daß man dafür genauso verantwortlich ist wie für sein Verlieben, entgegen der allgemeinen Überzeugung, die seit Jahrhunderten unermüdlich den alten Trug verkündet und wiederholt: »Es ist stärker als ich, ich vermag nichts dagegen«; und daß der Ausruf »Ich liebe dich eben so sehr« als Erklärung der Handlungen, als Alibi oder Entschuldigung, ausnahmslos mit dem Satz beantwortet werden müßte, den wenige zu sagen wagen, obwohl er der richtige ist, wenn die Liebe nicht erwidert wird und vielleicht auch dann, wenn sie es wird: »Wieso erzählst du mir das, das ist deine Sache.« Und daß man bisweilen – ja, das stimmt – sogar das Unglück erfindet. Nein, niemand ist verpflichtet, sich mit der Liebe zu befassen, die ein anderer für ihn empfindet, und schon gar nicht mit dessen Niedergeschlagenheit oder Verzweiflung, und doch fordern wir Aufmerksamkeit, Verständnis, Mitgefühl und sogar Straflosigkeit für etwas, das nur den angeht, der es empfindet, »Man muß ihn verstehen«, sagen wir, »es geht ihm sehr schlecht, und deshalb mißhandelt er alle«, oder auch »Man hat ihm weh getan, er befindet sich im Krieg mit dem Leben, er ist am Boden zerstört, er kann wirklich nicht ohne sie leben«, als wäre die Tatsache, jemanden nicht oder nicht mehr zu lieben, gegen diesen Jemand gerichtet, gegen den, der sehr wohl liebt oder weiter liebt, als wäre sie Machenschaft oder Schikane, eine Entscheidung, um ihm zu schaden, wo es doch gerade
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