Dein ist die Rache. McAvoys zweiter Fall: Ein Yorkshire-Krimi (Ein Aector-McAvoy-Krimi) (German Edition)
Es hätte nicht den geringsten Hinweis auf ihn gegeben. Aber sich in einer Zelle zu verkriechen, während wir rumsitzen und auf ihn warten – was hat er denn geglaubt, was seine Bosse sich dabei denken?«
McAvoy schwingt die Türen auf und tritt hinaus in die Kälte. Der Regen hat noch nicht richtig losgelegt, und seine Füße finden Halt auf dem schlüpfrigen Pflaster, während er durch die Gärten rüber zur Parliament Street joggt, dann runter auf die Whitefriargate mit ihren vergitterten Läden, den überlaufenden Rinnsteinen voll welker Blätter, leerer Flaschen und Styroporboxen.
Über den Trinity Square erreicht er die Dagger Lane.
Nimmt den Anruf entgegen, als das Telefon an seinem Schenkel vibriert.
»Und? Irgendwas Neues? Shaun?« Eine Pause. Ein Unterton echter Sorge. »Leanne?«
Die Straße liegt verlassen. Die Straßenlaternen werfen dunstige Lichtkegel in die graue Luft, und McAvoy schüttelt sich, als er feststellt, dass sein Mantel irgendwie auch ohne Regen völlig durchweicht ist. Eine Stimme an seinem Ohr. »McAvoy?«
»Bin fast da, Chefin.«
»Ihr fehlt nichts. Sie kennen sie doch. Sie ist zäh. Sie hat nichts zugegeben. Die haben sich die Sache selbst zusammengereimt …«
Sie versuchen, sich gegenseitig aufzumuntern. Es funktioniert nicht.
»Sie hat bestimmt keinen Ton gesagt, Chefin. Aber Shaun würde trotzdem nicht herkommen, und wir haben doch auch die ganze Nacht versucht, Leanne zu erreichen …«
McAvoy bricht ab.
Flucht.
»Aector?«
Die Tür zu Leannes Haus steht einen Spalt weit offen.
Er schließt kurz die Augen.
»Die Tür ist offen, Chefin.«
»Scheiße, Aector. Gut, ich bin unterwegs. Rufen Sie sofort die Streife.«
McAvoy beäugt den Eingang. Streckt die Hand aus und berührt probeweise das feuchte Holz. Stößt die Tür auf und tritt ein.
»Aector, ich bin kurz vor der Brücke. In spätestens fünfundzwanzig Minuten kann ich da sein. Denken Sie nicht mal daran, alleine da reinzugehen.«
McAvoy nickt und tritt wieder zurück.
Dann riecht er es. Den weichen, erdigen Geruch des Leids: nach Tränen und Schmerz. Er ist wie ein Hauch in der Luft, der Anflug eines Geschmacks. Er fängt sich in seinen Nasenlöchern und steckt ihm einen Finger in den Hals, so dass er würgen muss.
»Chefin, da ist jemand drin.«
Mehr sagt McAvoy nicht. Beendet das Gespräch und schaltet sein Telefon ab. Begibt sich so behutsam, als wollte er ein Kind nicht aufwecken, zurück in die Umarmung des Hauses.
Seine Füße machen kein Geräusch auf der Treppe. Er bewegt sich langsam, aber er nimmt drei Stufen auf einmal, um die Wahrscheinlichkeit von knarrenden Dielen zu reduzieren.
Er schnuppert: ein großer Hirsch, der in der Morgenluft nach Raubtieren wittert. Oder Beute.
Er bewegt sich auf das Zimmer zu, das er für das Schlafzimmer hält. Die weiß gestrichene Tür ist angelehnt, aber nicht ganz geschlossen. Er schleicht sich an. Holt den ausziehbaren Schlagstock aus der Tasche, steckt ihn wieder zurück. Er hat die Waffe noch nie eingesetzt. Aber er weiß, was sie anrichten kann. Will nicht seinen Namen der Liste der Beamten hinzufügen, die eine Disziplinarstrafe erhalten haben oder von Schuldgefühlen geplagt werden, weil sie sich vom Adrenalinrausch überwältigen ließen, während sie etwas derart Tödliches in der Hand hielten.
Er stößt die Tür auf.
Shaun Unwin ist mit den Fußgelenken an einem Stuhl mit steiler Lehne gefesselt. Er ist nackt. Seine Hände liegen mit den Handflächen nach unten auf den Knien: eine gelungene Imitation eines gemaßregelten Schuljungen.
Der Raum riecht nach Blut. Nach Feuerzeugbenzin. Nach verbranntem Fleisch.
Die Haut auf Shauns Oberkörper ist bis auf die Knochen weggeschmolzen.
Seine Füße stehen reglos in einer Lache aus Blut, das von den Stellen herabrinnt, wo ihm Nägel durch die Handrücken tief in die Kniescheiben getrieben wurden.
Sein Kopf hängt nach vorne: leblos.
McAvoy durchquert den Raum. Hebt Shauns Kopf an. Zuckt zurück, als er sieht, was vom Mund des Mannes übrig geblieben ist. Die Stummel abgebrochener Zähne. Das schwarzblaue Blut. Die Löcher in seinen mit Blut überzogenen Wangen.
Sie haben Shaun einen benzingetränkten Lappen in den Mund gestopft und dann angesteckt. Seine Zunge ist ein schwarzer, verschmorter Stumpf.
McAvoy kämpft gegen seine Instinkte an, streckt die Hand aus und presst die Finger an Shauns Hals.
Weicht zur Wand zurück und holt sein Telefon heraus.
Pharaoh meldet sich, bevor er etwas
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