Dein ist die Rache. McAvoys zweiter Fall: Ein Yorkshire-Krimi (Ein Aector-McAvoy-Krimi) (German Edition)
ihr in die Augen zu sehen.
»Ich bin sicher, er ist glücklich, wo immer er auch sein mag.«
Anthony hat nicht allen ihren Geschichten richtig folgen können. Suzie ist keine direkt lineare Erzählerin. Er weiß, dass ihr bester Freund vor einigen Monaten gestorben ist und sie sich seitdem isoliert und einsam fühlt. Ihm ist nicht klar, wie er weiter nachfragen soll, ohne aufdringlich zu wirken, oder was er mit der Antwort anfangen sollte.
»Glaubst du?«
Er nickt, so ernsthaft er kann.
»Du bist nett.«
Sie fragt sich, ob alle normalen Dates so ablaufen. Sie kennt das gar nicht. Sie war von Kindheit an mit ihrem ersten Freund zusammen und glitt in die Promiskuität, als diese Beziehung zu Ende ging. Sie ist nie umworben worden. Heute Nacht gemeinsam ein paar Flaschen Wein in der hübschen russischen Wodkabar unten in Whitefriargate zu trinken hat sich angenehm bizarr angefühlt. Sie ist nervöser als bei ihren zahllosen Ausflügen in Sexclubs. Dort war sie nie schüchtern oder unsicher. Jeder Besucher hatte nur eines im Sinn.
Aber bei einem richtigen Date mit einem netten Mann, der mehr über sie erfahren möchte, ist sie zappelig und verwirrt. Sie versteht nicht, was er von ihr will.
»Ich bin nett?«, fragt er gespielt beleidigt. »Genau das, was jeder Mann hören möchte.«
Suzie lächelt. Sie ist müde. »Nett auf gute Art, meine ich. Du wolltest meinen Baum kennenlernen …«
»Es ist ein großartiger Baum.«
»Er.«
»Er ist ein großartiger Baum.«
In ihrem Schwips beugt sie sich impulsiv vor und küsst ihn. Sie trifft ihn mit etwas zu viel Schwung knapp unterhalb der Lippen, so dass sie sich beide weh tun.
»Tut mir leid«, sagt sie und zieht sich zurück.
»Dazu besteht kein Grund«, erwidert er und massiert sich lachend die Lippen.
Einen Moment lang sehen sie sich verlegen an. Anthony ist neununddreißig, und aus der Nähe sieht man, dass er sich den Kopf rasiert, weil er sowieso kahl wird. Er trägt dieselbe braune Lederjacke wie in der Bank und riecht leicht nach Aftershave. Er ist ein attraktiver Mann, und es war ihm etwas peinlich gewesen, ihr zu erzählen, dass er beruflich Spielzeug für Kinderpartys und mobile Discos vermietet. Er hat zwei Kinder aus einer gescheiterten Ehe und lebt allein in einer Wohnung am Victoria Dock. Sie sind nur einen Katzensprung davon entfernt.
»Tut mir leid, dass ich so drauflosplappere«, sagt Suzie und weiß plötzlich nicht mehr, was sie sagen soll.
»Ich mag die Art, wie du redest. Es ist so beruhigend.«
Suzie sieht ihn an und überlegt, was sie tun soll. In einem Club würde sie ihn einfach bei der Hand nehmen und in ein Privatzimmer führen. Sie hätte gerne Sex mit ihm. Aber das hier fühlt sich anders an. Sie würde ihn auch gerne küssen. Möchte wissen, wie es sich anfühlt, seine Arme um sich zu spüren, den Kopf an seine Brust zu legen.
»Ich habe noch Wein zu Hause«, sagt er mit leisem Lächeln. »Es ist nicht weit …«
Suzie senkt den Blick auf ihre Füße. Sie trägt ihre Flipflops und steht in einer Pfütze. Es fühlt sich gut an. Wenn sie mit den Zehen wackelt, kann sie den Sand an ihren Fußsohlen spüren.
Es ist ein bekanntes Gefühl.
Plötzlich ist sie wieder auf dem Parkplatz bei Coniston. Sie wird von einem Fremden über der Motorhaube eines Wagens gefickt, während jemand das Gaspedal durchtritt …
Sie ist im Sexclub. Sie liegt mit gespreizten Armen und Beinen auf dem Boden; ein Mann ist in ihr, drei andere warten darauf, dass sie an die Reihe kommen. Simon lehnt mit einer selbstgedrehten Zigarette an der Wand und spricht mit einem gutaussehenden, grauhaarigen Mann mit einem auffälligen Hemd, das bis zur Taille geöffnet ist.
Sie heult ins Telefon, unfähig, die tröstenden Worte von Simons Tante zu hören, während sie die Nachricht verdauen muss, dass ihr bester Freund sich umgebracht hat und ihr nie genügend vertraut hat, um seinen Schmerz mit ihr zu teilen …
Suzie kippt gegen die Wand. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Sie weiß nicht mehr, was sie will oder wer sie sein will. Sie weiß nur, dass sie ihren Freund vermisst und das Leben sich leer und einsam anfühlt, seit er sich in seiner Küche erhängt hat.
»Niemand versteht es«, murmelt sie.
Sie muss sich lebendig fühlen. Sie muss ihr Herz verschließen und die Beine breit machen. Sie braucht keine Liebe, sagt sie sich. Muss nicht gehalten oder geküsst oder gelobt oder umworben werden. Sie will ihren Spaß haben und denen Lust bereiten, die sie
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