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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Alter und den Tod. Je mehr ich dann doch über Claudia erfuhr und je deutlicher ich erkannte, wie falsch ich mit meinen Mutmaßungen über sie lag, desto entschlossener skizzierte ich Maike als eine Person, die nicht dem Anfangsbild des Erzählers und damit der Erwartung des Lesers entsprach. Daß jene mir immer fremder, ja unwahrscheinlicher wurde, habe ich also für diese übernommen.
    Sowenig mir ihre Frisur, ihre Haarfarbe, ihre Kleidung, ihr Körperbau und überhaupt ihre Erscheinung auf der Straße oder in der Kantine aufgefallen wären, so überdeutlich war ihre Präsenz auf der Bühne – nicht die schlechteste Erinnerung an eine Schauspielerin. Man schaute auf sie, nicht nur ich, nein, das läßt sich verallgemeinern, ich bin sicher: Man schaute auf sie, fast alle im Theater. Schon vor ihrem Tod hatte ich mich gefragt, woran das lag. Ihr Gesicht entsprach nicht den Hochglanzformaten, oder erschien mir, um ehrlicher zu sein, weder häßlich noch hübsch; zudem spielte sie auf der Bühne oft älter, steifer, als sie privat wirkte. Es war – abgesehen vom Handwerk, das sie beherrschte – etwas anderes, egal, was sie spielte: Sie war eine Frau mit Geheimnis. Egal, was sie spielte: Man dachte, das sei nicht alles. Und so war es ja auch.
    Â 
    Er hatte sich vorgenommen, das Gedächtnis nicht wieder zu unterbrechen. Fragen haben sich während der Handlung von selbst geklärt, Fragen neu gestellt, die er beantworten wollte, wenn das Kapitel zu Ende ist. Nun aber steckt er fest, da er mit dem herausrücken müßte, was er über die Tote weiß. In Claudia Fenners Fall hat er Intimitäten erfahren, nichts, was sie in Verruf brächte und schon gar nichts Verwerfliches, Beziehungen jedoch und Handlungen, von denen man nur seinen Freunden erzählt. Nichts davon kann er erwähnen, sofern der Roman gelesen werden soll, den ich schreibe. Zu allem Überfluß simst die Tochter am Mittwoch, dem 28. Juni 2006, um 12:09 Uhr, daß sie nach der Schule zu einer Freundin gehen möchte, und beschert ihm am letzten Tag vor dem Urlaub zwei, drei unverhoffte Stunden am Schreibtisch. Er verschafft sich ein paar Minuten Aufschub und geht auf eine Suppe zum blonden Syrer neben der Kneipe, den er allen sechs türkischen Restaurants der Gasse vorzieht. Die zwölf Bände Hölderlins werden nicht in den Koffer passen, hingegen die Erinnerungen des Großvaters sind … der Enkel mißt nach … nur 1,1 mal 20,8 Zentimeter groß.
    Â 
    Kennengelernt habe ich sie, als ich in der Ensembleversammlung zusammen mit einem anderen Regisseur kurz die Idee einer Sonntagsmesse vorstellte, einer Serie improvisierter Aufführungen an verschiedenen Orten der Stadt. Unsere Präsentation mußte schnell gehen, und die Versammlung wirkte so träge, daß wir kaum hofften, jemanden angestiftet zu haben. Aber als die Versammlung sich auflöste, trat Claudia sofort an uns heran, enthusiastisch. Ich war überrascht, daß überhaupt jemand sich interessierte – und daß Claudia diejenige war, Claudia Fenner, die zu den wenigen Mitgliedern des Ensembles gehörte, die ich anfangs siezte. Seriosität strahlte Claudia aus, Professionalität, alte Schule, allerdings auch Biederkeit. Obwohl sie kaum älter war als ich, schlug ich sie einer anderen Generation zu. Es fällt mir schwer, diesen ersten Eindruck zu rekonstruieren. Schnell spürte ich etwas Unbändiges an ihr oder Sehnsucht, Bande zu lösen. Mir wurde auch klar, daß sie das Biedere, das ich der Person zugeschrieben, nur entlarven konnte, weil sie es durchschaute. Sie war nicht, wie sie schien, sondern ein bißchen verrückt, wie ich erfreut bemerkte. Genauer konnte ich es nicht benennen.
    Wir haben uns ein-, zweimal mit den Schauspielern getroffen, die sich an der Sonntagsmesse beteiligen wollten, und uns zum Abschied in die Sommerferien in der Pizzeria verabredet, wo die Reihe beginnen sollte, gegenüber meiner Stammkneipe. Ich spann mir schon einige der Verrücktheiten aus, die ich mit ihr ausprobieren wollte, und war stolz auf ihre Begeisterung. Sie galt etwas im Ensemble und war zugleich hungrig danach, das Bewährte nicht gelten zu lassen, den immer gleichen Ablauf von Proben und die vertrauten Konventionen des Spiels zu durchbrechen. Daß der andere Regisseur und ich anders redeten, anders dachten, anderes vorhatten, war ihr ein Wert an sich. Sie

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