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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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will den Fehler beheben und drückt nur weitere Tasten, die falsch sind, so daß die Leiste mitsamt Uhr verschwindet. Drückt er die gleichen Tasten noch mal, erscheint die Leiste wieder dreifach. So hat es keinen Zweck. Er kann sich nicht um die Taskleiste kümmern, während er den Roman tippt, den ich schreibe.
    Um 11:26 Uhr ist der Romanschreiber fast schon eine Stunde damit beschäftigt, die Taskleiste auf das ursprüngliche Maß zu bringen, ein bißchen viel angesichts unserer Sterblichkeit. Er kann es nicht ausstehen, wenn Kleinigkeiten nicht gelingen wollen; dann entwickelt er einen Ehrgeiz, der ihnen völlig unangemessen ist. Aber er wird sich doch wohl noch beherrschen können! Womöglich hat Frankreichs Nummer zehn unbewußt einem Impuls nachgegeben, der auch István Eörsis letztes Buch ausgelöst hat: im Abgang das eigene Denkmal zerschlagen zu wollen, weil es zertrümmert eher der Wirklichkeit entspricht. Im Ergebnis vervollkommnet die Verwüstung beides, Denkmal und Wirklichkeit: Daß alle Reporter, Fußballexperten, Funktionäre und sagen wir knapp zwei Milliarden Zuschauer die gleiche Regung spürten, dieselbe Bestürzung erlebten, ist ein Trost, mit dem nicht zu rechnen war. Die Nachricht, daß Frankreichs Nummer zehn trotz des Feldverweises zum besten Spieler der Weltmeisterschaft gewählt wurde, riefen die Kinder wie eine päpstliche Verfügung von den Balkonen des Ferienhauses. Die Geschichte des Einwanderersohns geht weiter als erster Selbstmordattentäter, den der Westen als Märtyrer anerkennt. 11:37 auf der Uhr, die zu groß ist. Israel bombardiert Beirut. Die Tochter ist mit der Großfamilie zum Strand gefahren, so daß er in Frieden tippen könnte, wenn nur die Taskleiste ihn ließe. Er probiert neue Tastenkombinationen, Schaltflächen und Systemsteuerungen aus, probiert die bereits erprobten wieder und scheitert jedesmal aufs neue. Die Taskleiste bleibt verdreifacht. Er kann sie weiter vergrößern, er kann sie verschwinden lassen, aber sie auf das ursprüngliche Format zu bringen, eine Querspalte von vielleicht einem Zentimeter, gelingt ihm einfach nicht. Er will … und um 11:44 Uhr, ohne zu verstehen, wie und warum, ist die Taskleiste doch so schmal wie vorher. Einige der üblichen Symbole sind nicht mehr zu sehen, die Batterieanzeige, die Drahtlosnetzwerke, aber Hauptsache die Uhr, in welcher Größe auch immer. Der Romanschreiber denkt an den unaffektiertesten, gutmütigsten Vertreter der arabischen Literaturgeschichte von der Dschahiliyya bis heute, denkt an einen glänzenden Schädel und einen grauen Haarkranz über den Ohren, an eine große Nase und einen breiten Schnurrbart, denkt vor allem an ein Schmunzeln, einen immer interessierten Blick und den samtweichen Klang des libanesischen Französischen, der auch die Flieger für ihn einnehmen würden, die in dieser Minute – 10:52 Uhr der libanesischen wie israelischen Zeit – seine Stadt bombardieren. Die Augen des Dichters sind mindestens so melancholisch wie die von Frankreichs Nummer zehn, jedoch auf andere Art, offen, freundlich, selbst in politischen Debatten zugetan. Der Romanschreiber sollte ihm eine Mail schicken, so wie vorgestern der Schriftstellerin, der in Ankara der Prozeß gemacht wird. Eine Mail ist nicht viel, wenn ein Freund oder eine Kollegin in Bedrängnis ist, nichts als ein Geständnis der Hilflosigkeit (if there is anything I can do, write or organize, please please don’t hesitate to …) und doch das mindeste, ein Ritual so notwendig wie ein Gebet. Und häufig tut das bloße Zeichen der Sorge dem anderen doch wohl, wie er gelernt hat. Wahrscheinlich funktioniert in Beirut das Internet gar nicht. Nach dem Mittagessen wird er ausprobieren, ob man tatsächlich ein Photo in das Word-Dokument stellen kann. Die Bilder, die noch nicht eingescannt sind, wird er nachträglich in die Vitrinen stellen und ein Gedächtnis nie mehr unterbrechen.
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    Friedrich Niewöhner (7. November 1941 Schwelm; 1. November 2005 Wolfenbüttel) ( Bildnachweis )
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    Friedrich Niewöhner lernte ich im Streit kennen. Oh, er war böse auf mich. Ich war noch Student und zum ersten Mal von der FAZ auf Dienstreise geschickt worden, schickes Hotel am Kurfürstendamm, wo ich sonst in Berlin immer bei Freunden auf der Matratze übernachtete, und Taxiquittungen einzureichen befugt. An der

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