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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Kermani ihn nicht erwähnte. Selbst die Auslassung würde sich bemerkbar machen.
    Gemeinsam mit der Tochter erzeugte er einen »Tränensee«, um es mit dem Herausgeber zu sagen, der den Ausdruck in der Einleitung zum sechsten Band schon wieder verwendet, einen realen … gut, keinen See, jedoch ein reales Tränenfleckchen auf dem Sofa ihres Wohnzimmers. Nur mit einem feuchten Tuch war der Salzrand zu entfernen, der sich auf dem Polster bildete, als der Vater die Tochter vorm Zubettgehen fragte, ob sie auch das Gesicht gewaschen habe. – Ja, Papa, machte sie sich über ihn lustig und verdrehte dabei die Augen, natürlich, Papa, dein Wort ist mir Befehl, Papa. Daraufhin zitierte der Vater, was sein Vater rufe, wann immer er ihn von einem Zimmer zum anderen Zimmer gehen sieht: Erkälte dich nicht! – Selbst in der Wohnung? fragte die Tochter. – Gerade in der Wohnung. – Auch im Sommer? – Es sei denn, ich trage eine Daunenjacke. – Selbst jetzt noch? – So oft wie früher. – Aber du bist doch schon alt. – Aber für Opa immer noch sein Kind. – Und bei deinen Brüdern auch? – So sind Väter. Wenn die Tochter einmal zu lachen begonnen hat wie ihr Ururgroßvater auf dem Photo, kann sie nicht mehr aufhören. Irgendein Mechanismus in ihrem Bauch oder im Kopf ist dann aus der Feder gesprungen. Wie sich ihr Lachen von selbst steigert, bis es den gesamten Körper schüttelt, schießen auch dem Vater die Tränen in die Augen – vor Rührung, aber nicht nur vor Rührung, auch vor Vergnügen, denn er hat den gleichen Humor und findet dieselben Banalitäten lustig. Und wenn die Tochter merkt, daß sie den Vater mit ihrem Lachen angesteckt hat, nimmt ihres erst richtig Fahrt auf. Sie schmissen die Pointen hin und her, bis er zu dem Obst gelangte, das zu essen seine Mutter ihn drei Sätze nach jeder Begrüßung, alle drei Minuten und selbstverständlich zum Abschied noch dreimal aufforderte. Von da an lachten sie ohne weitere Pointen. Hat es dieses Stadium erreicht, kann das Lachen Furcht und Schrecken austreiben wie nach Aristoteles die Tragödie. Drei Stunden zuvor sprach Navid Kermani zweimal mit der Schwiegermutter des Sterbenden in Frankfurt. Dessen Frau ruft vielleicht morgen zurück. Sie sei zwar da, könne allerdings nicht sprechen, bat die Schwiegermutter beim zweiten Anruf um Verständnis. Danach rief er die Nachbarn an, die ihn beim Sterbenden eingeführt hatten. Die Nachbarin sagte, daß der Sterbende nicht viel spricht. Seine Kinder seien angereist, um Abschied zu nehmen. Auch Navid Kermani spürte körperlich, genau gesagt unterhalb der Brust, den Impuls, den Sterbenden noch einmal sehen zu wollen, als gehe dieser auf eine weite Reise. Das sind so Metaphern, die einem durch den Kopf gehen, mehr nicht, so abgedroschen, daß man sie zum Glück nicht ausspricht. Jedes Trostwort läuft auf eine Floskel hinaus, waren die Nachbarin des Sterbenden und Navid Kermani sich einig. Schmerzen hat der Sterbende keine, sagte die Nachbarin, die jeden Tag mit dessen Frau telefoniert, obwohl sie im gleichen Haus wohnt. Wenn überhaupt, ist also Morphium ein Trost. – Das ist toll von dir, daß du dich so kümmerst, sagte die Nachbarin. Navid Kermani wandte nicht ein, daß zwei Anrufe doch kein Beistand seien. – Irgendwie ist in der Kürze eine Verbindung zwischen euch zustande gekommen, fuhr sie fort. – Das war die Situation, suchte er nach einer Erklärung. Er sei dem Sterbenden nicht auf einem Kongreß begegnet, sondern nachdem er von der Krankheit erfahren hatte, die nicht heilbar ist. Über die Schwangerschaft freute sich die Nachbarin lautstark. Er meint, der Frau gehe es besser als gestern abend, obwohl die Frau selbst kaum Fortschritte sieht: Wehen seien Wellness dagegen. Angefangen hat es am Dienstag und wurde trotz Arztbesuchen, Physiotherapie, Orthobionomie und Akupunktur kontinuierlich schlimmer. Weil sie schwanger ist, darf sie höchstens Kopfschmerztabletten nehmen. Gestern abend stand er kurz davor, sie in die Universitätsklinik zu fahren, aber der Ophthalmologe riet, sie sollten versuchen, die Nacht zu überstehen. In der Klinik würden sie nachts nicht viel tun, wie sie doch bereits erfahren hätten. Heute morgen wachte der Mann dann von einem langgezogenen Schrei auf, wohlgemerkt einem Schrei, nicht nur ein Rufen oder lautes Stöhnen, ein Schrei

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