Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
Vom Netzwerk:
wie im Theaterseminar, im Kreißsaal oder in der Selbsterfahrungsgruppe, nur länger. So einen Schrei kennen wir aus dem normalen Leben nicht. Er fand die Frau im Flur. Zwei Stunden später hatten sie endlich die Universitätsklinik erreicht, jede Stufe ihres Treppenhauses eine Kletterpartie. Als er ihr auf dem Damenklo den Urinbecher unters Gesäß hielt, dachte er daran, was er anfangs gegen Hölderlin vorgebracht hatte: Dann erst, dann sprich über Liebe. Wieder zwei Stunden später schlug der Arzt ihre Bedenken in den Wind und spritzte mit den Worten, daß es Grenzen des Ertragbaren gebe, eine lokale Betäubung. Jetzt, um 1:27 Uhr des nächsten Tags, Sonntag, der 15. Januar 2007, hat die Wirkung nachgelassen. Durch die offenen Türen hört er die Frau, die im Ehebett döst, in Intervallen von einer oder zwei Minuten stöhnen. Er kümmert sich seit Freitag wieder durchgehend, ohne schon auf den Autopiloten geschaltet zu haben, gleichwohl routiniert, Mitleid und Zuversicht als eine Infusion, die vierundzwanzig Stunden am Tag tröpfelt. Seit dem Besuch in der Universitätsklinik ist er tatsächlich ruhiger. Unmittelbar danach meinte er für einen Moment, schachmatt zu sein, aber vor Anspannung, die sich nach der Untersuchung löste, nicht vor Erschöpfung. Er hatte nicht erwartet, die Frau wieder mit nach Hause nehmen zu können. Noch vor der Sorge war es der Schock zu sehen, wie das nächste, das vertrauteste, das geliebteste Geschöpf leidet, also nicht nur traurig ist oder verzweifelt, sondern real leidet, physisch auf die schlimmste bis jetzt miterlebte Weise. Doch, im Krieg hat er Menschen in diesem Zustand gesehen. Selbst als Berichterstatter wünscht man sich das Leben dann ausgeschaltet. Zugleich dachte er in jeder Sekunde an das Leben, das in ihrem Bauch wächst. Sie macht sich Sorgen um das Ungeborene; er hingegen vermutet, daß es ihre Bettlägerigkeit ganz gut findet: endlich Ruhe im Karton. Ihr ist es auch peinlich, nicht allein vom Klo aufstehen zu können. – Ach, früh genug bist du an der Reihe, mir den Arsch abzuwischen, sagte er, da mußten sie beide lachen, was allerdings dem Nerv Anlaß bot, ein neues Trommelfeuer ins Gehirn schoß. Hauptsache, dem Kind geht es gut, hört er aus den Anrufen der Freunde und Verwandten heraus. 2:23 Uhr, er sitzt an dem Tisch, an dem er täglich schrieb, bevor er ein Büro nahm, das keine Wohnung mehr ist. Alles schläft, endlich die Frau, die Tochter, wahrscheinlich auch das Ungeborene. Ob der Sterbende schläft, ob dessen Frau? »Eil, o zaudernde Zeit, sie ans Ungereimte zu führen, /Anders belehrest du sie nie wie verständig sie sind«, beginnt Hölderlin das »Gebet für die Unheilbaren«, das zwischen den beiden Bänden des Hyperions entstand. Nein, weiter zitiert Navid Kermani das Gedicht nicht, das zu dunkel ist. Immer wieder fliegt er im Geist nach Frankfurt, durchs Fenster in das Haus am Zoologischen Garten, wo er ein und aus ging, als er nach dem Abitur beim Nachbarn des Sterbenden assistierte. Jetzt betritt er die Wohnung darüber. In das hellerleuchtete Eßzimmer, wo er mit dem Sterbenden und dessen Frau Tee trank, gelangt er noch, nicht weiter. Es ist leer. Er wartet. Schließlich traut er sich doch in den Wohnungsflur, wo ebenfalls Licht brennt. Die Türen sind entweder zu, oder es ist dunkel in den Zimmern. – Herr Professor, möchte er leise rufen, so leise, daß er den Sterbenden nicht aufweckt, falls er schläft, Herr Professor, ich bin da. Darf ich mich zu Ihnen setzen? Wir reden auch nicht über den Zustand der Demokratie, das europäische Projekt und die Zukunft der Universität. Wir hatten von vornherein wichtigere Themen. Ich kann so bald nicht schlafen. Und Sie, Frau Professor, was ist mit Ihnen? Sie sind ja noch da. Ja, natürlich hätte ich mir das denken können. Kann ich Ihnen einen Tee zubereiten? Nein, nein, ich finde mich schon zurecht.
    Der Bildhauer in München meinte, daß der Freund in Köln das jetzt noch aufschreiben müsse, den Tag aufschreiben, jetzt, da sie miteinander gesprochen hätten, auch ihr Gespräch. Der Freund antwortete, daß er zu erschöpft sei. Morgen, morgen würde er das tun. Dabei machte er in der Ahnung, den Laptop zu benötigen, eigens den Schlenker zum Büro, als er am Abend mit der Tochter aus dem Krankenhaus der Augustinerinnen zurückkehrte. Doch

Weitere Kostenlose Bücher