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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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entlang, an der Eisenbahnunterführung links oder rechts in die Geschäftsstraße, am Stadttor links oder rechts in die Gasse. Am nächsten Tag hatte er den Alptraum, daß die Tochter, die auf dem Spielplatz im Mediapark hinter einer Böschung verschwand, nie mehr lebendig in sein Blickfeld zurückkehrte: Dann würde dieser Augenblick, in dem er die Tochter noch nicht vermißt, zum kostbarsten seines Lebens werden, der Blick auf ein Klettergerüst, die Frühlingsluft, die Stimmen der Kinder. Auf dem Nachhauseweg traf er die Islamkritikerin, deren Widerwort er sich in Berlin erspart hatte, indem er die Konferenz vorzeitig verließ, um das Flugzeug nach München zu erreichen. Vielleicht weil er mit Fahrrad und Tochter ihrem Bild des islamischen Mannes nun glaubhafter widersprach als auf der Konferenz, war sie überaus freundlich. Wir arbeiten in Berlin zusammen, sagte sie der Tochter. Abends hörte er in der Philharmonie Schubert, der ihm in Perioden so etwas wie Erlösung brachte, nicht nur Vergessen. Erst als die Direktrice über die Tränen erschrak, die auf seine Hose tropften, merkte er, daß er um die Gnädige Frau und den Musiker weinte. Am Sonntag, dem 11. März 2007, war er ab elf Uhr im Fernsehen wieder so entspannt wie in Mannheim und hatte nachmittags Besuch, obwohl er die Frau gebeten hatte, eine Ausrede zu erfinden, niemals sei es leichter gewesen als in ihrem Zustand. Bis zur Fernsehsendung stehe ich noch durch, hatte er die Frau gewarnt, aber kein Wort weiter, das klappt einfach nicht. Es klappte. Als der Besuch fort war, begleitete ihn die Tochter auf dem Fahrrad beim Joggen. Er kochte, sah ein Fußballspiel im Fernsehen, räumte die Wohnung auf, telefonierte mit der Gnädigen Frau und deren Familie, seiner Mutter in Isfahan, die wegen ihres Bruders weinte, mit der Familie des Onkels, der es ablehnt, sich an das Dialysegerät anschließen zu lassen, das ihn vor dem Tod retten würde. Damit zu leben sei kein Leben mehr, sagte der Onkel selbst, als seine Frau ihm den Hörer ans Bett brachte. Inzwischen ist es 2:33 Uhr am Montag, dem 12. März 2007. Offenbar kann er wieder In Frieden schreiben, was auch immer, Hauptsache, die Zeit vertreiben, bis er endlich schlafen kann. Um mit dem Träumen schon mal anzufangen, malt er sich aus, daß infolge der Debatte um die deutsche Verstrickung in Guantánamo, die sein Feuilleton ausgelöst hätte, der Außenminister tatsächlich zurückgetreten wäre, was natürlich vollständig unrealistisch ist, einmal nur als pubertäres Gedankenspiel: Die Gnädige Frau und der Musiker hätten Politik, in gewisser Weise, immerhin ist es ein Außenminister, Weltpolitik gemacht, insofern ihr Freund vergangene Woche seinen Schmerz oder seine Unfähigkeit, mit dem Roman fortzufahren, den ich schreibe, mit einem Brandartikel abreagierte. Vielleicht würde das sogar der Außenminister verstehen, der selbst Menschen haben wird, um die er auf Erden bangt.
    Die Frage, ob sich die Eheleute im Zuge der Badrenovierung einen Trockner anschaffen, hat die Frau zum Grundsatzstreit auserkoren: Es muß nicht immer nur nach deiner Nase gehen. Bitte. Aber wohin damit? Und die Klimakatastrophe. Für ihn sahen schon die Armaturen, die der Installateur ihm in den Sanitärgeschäften zeigte, alle gleich aus, manche schlank, manche klobig, aber alle aus Metall, und die Waschbecken sind weiß. Noch drei Anrufe, dann geht er einen Trockner kaufen, zum Teufel mit dem Klima. Das Gespräch mit dem Musiker in München dauert nicht einmal zwei Minuten, so schnell sind sie durch mit dem, was gesagt werden kann. Dessen hastim ist das Ultimum der Klage, die sich ein Iraner als Antwort auf die Frage erlaubt, wie es geht: »Wir sind«. Die Stimme des Onkels klingt etwas kräftiger, als der Neffe erwartet hat, gleichwohl niedergeschlagen: hamineh ke hast , »es ist, wie es ist«, Niere weg, Magen im Eimer, Wirbelsäule kaputt, Herz im Arsch, aber nicht depressiv wie beim letzten Anruf, sofern solche Unterscheidungen während eines Telefonats von zwei, drei Minuten überhaupt zu treffen sind. Nächstes Jahr sei es zu spät, bittet der Onkel, sie sollten früher nach Isfahan kommen, er wolle doch mit der Tochter wieder reiten gehen. Nächstes Jahr sei er vermutlich schon tot. Die Gnädige Frau, die wieder Wasser in der Lunge hat und deshalb kaum reden, nur mit Mühe atmen kann bis zur

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